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Zwei Herren plaudern über Wieland … Im Düsseldorfer Goethe-Museum stellte Jan Philipp Reemtsma seine groß angelegte Biographie vor
Vier Dichter begründeten als sowohl Glück wie auch Literatur bringendes Kleeblatt Weimars Bedeutung als kleine Klassiker-Metropole. Zwei von ihnen sind heute leicht aus dem Blickfeld geraten: Herder und Wieland. Im Weimarer Stadtschloss erinnern vier Dichterzimmer an das Quartett. Goethes und Schillers Ruhm überstrahlt den der anderen. Das ist nicht nur in der Rückschau ungerecht. Christoph Martin Wieland traf als erster ein und prägte die bescheidene Provinz-Residenz nachhaltig. Ihm sei Weimars Bedeutung als Stadt der deutschen Klassik zu verdanken, führte Jan Philipp Reemtsma aus, modern würde man sie als europäische Kulturhauptstadt bezeichnen. Seit Jahren bemüht er sich als Literaturwissenschaftler und Mäzen, Wieland dem Vergessen zu entreißen. Zuletzt mit seiner umfangreichen Biographie von mehr als 700 Seiten: „Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur.“
Die präsentierte er im Düsseldorfer Goethe-Museum im Gespräch mit dessen Direktor Christof Wingertszahn. Trotz sommerlicher Hitze war der Saal gut besucht und sowohl die lebhafte Diskussion im Anschluss wie auch der Andrang mit Bitten um Signatur belegten, dass Reemtsma mit seiner Darstellung ganz offenbar überzeugen konnte. Wieland war ein literarisches Multi-Talent, umfassend gebildet und fest entschlossen, als Autor in Deutschland Karriere zu machen. Extrem sorgfältig stellt Reemtsma dessen Entwicklung dar. Knapp 100 Seiten verwendet er auf die Jugend und erste amouröse Eskapaden, bevor der „werdende Autor“ (S. 92) mit seinen exakt analysierten Werken in den Blick gerät. Außer der gelösten Verlobung mit seiner Cousine Sophie Gutermann – als Schriftstellerin Sophie von La Roche wird sie später ebenfalls erfolgreich veröffentlichen – gab es noch weitere Beziehungen, die, gut schwäbisch formuliert, ein ‚Geschmäckle‘ besaßen.
Vorspiel im Leben des Dichters …
Diese Darstellung des biografischen Vorspiels ist hilfreich, keine Kolportage, weil Fragen der Erotik und gesellschaftlichen Moral in Wielands Werk eine zentrale Rolle spielen werden. Jura studiert Wieland in Tübingen „nur zum Schein“, weit mehr interessieren ihn Philosophie und Literatur. Aufmerksam macht er auf sich zunächst mit einem „Lehrgedicht in sechs Büchern“, einer eigenen „Natur der Dinge“ – angelehnt an Lukrez. Sein Anspruch dabei ist, nicht weniger als das „christliche Pendant“ zu liefern. „Klopstock, der das Nämliche mit seinem ‚Messias‘ (hier mit dem Vorbild Homer) unternehmen will, gibt die strategische Richtschnur“ (S. 41), formuliert der Biograph. Dabei deutet sich bereits an, wie weit Reemtsma den literarischen und historischen Kontext auffächern wird, wenn er erst auf die einzelnen Dichtungen im Detail zu sprechen kommt. Diese Biographie zeichnet sich durch extreme Genauigkeit aus, bleibt dabei aber spannend, frei von trockener Gelehrsamkeit.
Auch Wielands nächste Schritte sind taktisch kalkuliert: An einen bekannten Hallenser Professor der Logik, Mathematik und Metaphysik, an Georg Friedrich Meier, der hatte sich bereits „durch die Verteidigung von Klopstocks ‚Messias‘ hervorgetan“ (S. 41), sendet er anonym sein Werk. Und Meier erweist sich als ‚Türöffner‘, steuert für die noch anonyme Buchausgabe 1752 ein verkaufsförderndes Vorwort bei. Nach diesem schönen Erfolg sendet Wieland nun Johann Jakob Bodmer seine nächste Arbeit: ein Gedicht über „Hermann“ (den Cherusker). Auch Bodmer äußert sich freundlich. Wieland folgt seiner Einladung und bleibt bei ihm für 8 Jahre als sein Schüler in Zürich. Bodmer beteiligt ihn an der Neu-Edition seiner 1741 erschienenen „Züricherischen Streitschriften“ gegen Johann Christoph Gottsched. Doch diese freie, an Eckermann erinnernde Existenz behagt Wieland auf Dauer weniger.
Amtsdeutsch der Kanzleien oder Feld der Poesie
Einen Brotberuf als sicheren Hafen sucht er und kehrt 1760 nach Biberach an der Riß zurück, wo man ihn – mit familiärer Fürsprache – zum Senator wählt und zum Kanzleiverwalter ernennt. Erstaunlich ist, wie Wieland die Sphären seines Lebens und Schreibens zu trennen weiß: im Amt und Gartenhaus. Meilenweit unterscheidet sich das damalige Amtsdeutsch, der dröge Ton beamteter Politiker, von den eleganten Versen, die Wieland in seiner Freizeit dichtet. So leichtfüßig kommen sie und auch die Reime daher, dass man ihr poetisches Niveau beinahe überlesen und sie für Prosa halten könnte. Bewusst nutzt er Unregelmäßigkeiten, um inhaltlich Akzente zu setzen. Es war ein Vergnügen, sich von Reemtsmas Begeisterung für die sprachliche Finesse seines Helden auf dem Feld der Poesie anstecken zu lassen.
Doch nicht nur Lyrik entsteht seit dieser Zeit, sondern er mausert sich zum ersten Autor seriöser Romane. Wieland habe immer ‚E-Literatur‘ geschrieben, darauf legt Reemtsma Wert, keine Prosa zur Unterhaltung, um in modernen Kategorien zu denken, oder wie damals verbreitet: Ritterromane. Die „Geschichte des Agathon“ ist zuerst 1766 und 1767 in zwei Bänden erschienen, wurde von Wieland später überarbeitet und gilt mit guten Argumenten als der erste große Bildungs- und Erziehungsroman in der deutschen Literatur, als Vorläufer modernen psychologischen Erzählens.
Bereicherung des sprachlichen Horizonts
Fast alle Werke Shakespeares hat Wieland übersetzt und dabei vor dem Problem gestanden, deutsche Äquivalente für nur im Englischen gebräuchliche Wendungen zu finden. Dadurch habe er die deutsche Literatur um Ausdrücke bereichert, die inzwischen in den hiesigen Sprachgebrauch eingegangen seien. Damit hat er einen wichtigen Beitrag zu einem modernen, plastischen Deutsch geleistet. Aus dem britischen „hobby-horse“ ist ein „Steckenpferd“ geworden, den Begriff des „Milchmädchens“ kannte man hier vorher nicht. Seine Übersetzungen bereicherten den Horizont der deutschen Sprache und ihre Ausdrucksmöglichkeiten.
Hatte der ignorante Preuße Friedrich II. in seiner französisch verfassten Polemik „De la Littérature Allemande“ 1780 noch deutsche Autoren wegen ihrer Nähe zu Shakespeare deftig geschmäht, bewies Wieland, dass er und seine Kollegen neben der europäischen Konkurrenz durchaus bestehen konnten. Und wurde so erfolgreich, dass man an anderen Höfen sein Ansehen als Autor mit Interesse zur Kenntnis nahm. Da die Erfurter Universität damals als akademische Einrichtung kein sehr hohes Ansehen genoss, lag es für den zuständigen Landesfürsten nahe, sich und die Hochschule mit Wieland als Aushängeschild zu schmücken.
Extrem langweilig und anstrengend in jeder Beziehung dürfte die Kanzleiarbeit in Biberach gewesen sein; so empfand Wieland die Berufung zum Professor nach Erfurt als eine Art Befreiung. Dort war er mit einem breiten Angebot an Lehrveranstaltungen erfolgreich, wenn er auch harsche Ablehnung durch jene Kollegen erlebte, die sich ihre Karriere mühsam auf der akademischen Leiter erkämpft hatten und nun mit Argwohn sahen, dass ein erfolgreicher Dichter wegen seines literarischen Ranges berufen wurde. Ähnlich wie später zu Schiller in Jena kamen Studenten gern in Wielands Vorlesungen. Von Neid sind auch etablierte und anerkannte Professoren offenbar wohl nicht immer frei, modern würde man wohl von einem Mobbing gegen den ungeliebten Kollegen sprechen.
Verkäufer seiner Selbst
Deshalb war es für Wieland sicher erneut eine willkommene Erlösung, von Anna Amalia zum Prinzenerzieher berufen zu werden. Weder war dieser Aufgabenbereich klar definiert noch das angemessene Salär. Ausführlich schildert Reemtsma, wie Wieland sich auch hier als erfolgreicher Verkäufer seiner Selbst bewährt. Vor allem aber garantiert die neue Profession ihm Unabhängigkeit bis an sein Lebensende; ganz kann er sich seinen literarischen und journalistischen Ambitionen hingeben, zumal sich gegenüber seinen Eleven Carl August und Costantin ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt.
Noch von Erfurt aus plant er, ein Journal herauszugeben: „Der Teutsche Merkur“, orientiert am Titel des „Mercure de France“. Ein Periodikum, in dem er literarische und politische Themen behandeln will. Sympathien für die Französische Revolution kann er als Höfling nicht offen bekunden, also bietet es sich an, heiklere Fragen im Disput zu behandeln und selbst nicht Stellung zu beziehen, wie Reemtsma ausführte. Zwar wurde auch die Wieland-Biografie im Dialog vorgestellt, jedoch als Plauderei zweier Germanisten. Während im „Merkur“ die streitenden Partner Fragen offen ließen, der Leser sollte sich selbst ein Urteil bilden, waren Reemtsma und Wingertszahn sich offenbar weitgehend einig in ihrem Urteil über Wieland und natürlich diese Biografie.
Ohne Degen und in Tuchstiefeln …
Als Napoleon zum Fürstenkongress 1808 nach Erfurt reiste, bemerkte er Wieland in einer Loge des Theaters. Dort wurde von Voltaire „La Mort de César“ gegeben. Erstaunlich, dass ein selbstgekrönter Alleinherrscher sich die Ermordung eines Diktators und Kollegen anschaut. Noch verblüffender ist allerdings, was hinterher geschah. Denn nach der Vorstellung vermisste der Kaiser der Franzosen Wieland auf dem Ball. Also ließ er ihn rufen. Wieland hatte sich zurückgezogen. Gegenüber Anna Amalia hatte er sich ausbedungen, bei Hofe nicht in der üblichen Staatskleidung erscheinen zu müssen, wie beispielsweise Goethe es hielt. Also erschien Wieland salopp gekleidet in „Tuchstiefeln“, statt einer Perücke trug er „eine Calotte auf dem Kopf, ungepudert ohne Degen“ (S. 598). Anderthalb Stunden lang unterhielten sich der Dichter und der mächtigste Herrscher und Feldherr Europas. Ganz freundschaftlich, ohne sich von anderen Herrschaften oder der Etikette stören zu lassen.
Es kam noch zu einer weiteren Begegnung, nicht ganz freiwillig. Wieland wird an den Hof befohlen, um Napoleon beim Frühstück zu sehen. Immerhin „folgen der Orden der Ehrenlegion Erster Klasse vom französischen und der St.-Annen-Orden Zweiter Klasse vom russischen Kaiser“. Allerdings war der zu Ehrende nur bedingt begeistert: „Wozu das alles? Eine mäßige Pension wäre mir lieber gewesen“ (S. 601). Allein, die bezog er ja bereits von Carl August.
Bereits zu Wielands Lebzeiten habe das Interesse an ihm nachgelassen, schilderte Reemtsma die weitere Entwicklung. Jüngere Autoren drängten vor, wollten sich auf Kosten der älteren Generation profilieren, wie man es auch heute erlebe. Ziel der Brüder Schlegel sei es gewesen, Wieland mit ihrer Zeitschrift „Athenäum“ zu „vernichten“. Wieland sei „nicht christlich, nicht deutsch, ein Französling“ und außerdem gefiel ihnen sein Umgang mit erotischen Fragen nicht, Wieland war ihnen zu liberal. Das erinnert an fremdenfeindliche und religiöse Ressentiments unserer Tage.
Ressentiments und Rehabilitation
Rehabilitiert hätten ihn erst lange nach seinem Tod der Biograph Friedrich Sengle und vor allem Arno Schmidt. Wieland sei nie in der Schule vorgekommen, weil er keine Balladen verfasste und damit Lesebücher erreichte. Auch wenn Schüler selten begeistert seien, längere Gedichte lernen zu sollen, bliebe doch wenigstens der Name des Autors im Gedächtnis. Wenn auch nicht eben positiv besetzt. Zudem habe Wieland keine Theaterstücke hinterlassen, die heute noch gespielt würden. Damit blieb er sogar für das Bildungsbürgertum weitgehend unbekannt. Es galt Walter Benjamins Feststellung: „Wieland wird nicht mehr gelesen“ (S. 620).
Und sein Verhältnis zu Goethe? Auf dessen dramatische Farce „Götter, Helden und Wieland“ (1774) reagierte das Objekt des Spotts erstaunlich gelassen und souverän, besprach sie anerkennend und lobte ausdrücklich Goethes „Götz“ im „Teutschen Merkur“. In ihrer Einschätzung der Existenz bei Hofe, der Französischen Revolution und der sozialen Verhältnisse unterschieden sie sich, was aber einen kollegial-freundschaftlichen Umgang nicht verhinderte. Goethes „Logenrede“ nach Wielands Tod sei, urteilt Reemtsma, „als Nachruf genregemäß ein Rückblick, aber sie ist, kurios genug, ein Rückblick auf einen, den eigentlich keiner mehr so recht zu kennen scheint – und den man auch nicht mehr zu kennen braucht“ (S. 620).
Dass Wielands Bekanntheit verblasste, galt wohl später stärker für den Westen als im Gebiet der ehemaligen DDR. Als wir nach der Maueröffnung 1989 Weimar besuchten, hatten wir Schwierigkeiten, Wielands Gut zu finden, und fragten einen Jugendlichen nach dem Weg. Leuchtende Augen bekam der sofort, als er nur den Namen Oßmannstedt hörte und fragte uns erfreut: „Wollt Ihr zu Wielanden?“
Diesem Mangel abzuhelfen, Wieland seinem Rang gemäß publik zu machen – im Lauf des Gesprächs konnte man es klar erkennen – hat Reemtsma sich mehrfach bemüht; getragen von der Begeisterung für Wielands Kunst, hat er jeden Aspekt dieser Biographie präzise ausgeleuchtet, den historischen und literarischen sowie philosophischen Kontext ausführlich geschildert. Kapitel im Buch über Rousseau und Kant, über Aristophanes und Euripides belegen es. Mit Witz und Sinn für originelle Wendungen sprachlicher Art und in Wielands Leben hat er damit eine Biographie vorgelegt, die sich auch als schier von amüsanten Szenen überbordender historischer und Entwicklungs-Roman lesen lässt – über die reine Vermittlung von Fakten hinaus. Ein ausführlicher Anhang mit Zeittafel, chronologischer Abfolge der Werke Wielands nach dem Erscheinungsjahr, dem Literaturverzeichnis sowie ausführlichen Anmerkungen macht deren wissenschaftlichen Wert aus, schmälert aber nicht das Lesevergnügen.
Jan Philipp Reemtsma
Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur. Eine Biographie
München 2023
4. Auflage
704 Seiten, mit 34 Abbildungen
ISBN 978-3-406-80070-2
Preis: 38,00 €