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„Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen“. Uecker – Hafis – Goethe
Sonderausstellung im Goethe-Museum Düsseldorf
Dass ein Düsseldorfer Museum den in Mecklenburg geborenen Künstler Günther Uecker zu seinem 90. Geburtstag mit einer Sonderausstellung würdigt, verwundert nicht. Schließlich lebt der Maler und Objektkünstler seit Mitte der 1950er Jahre in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt, wo er an der Kunstakademie bei Otto Pankok studierte und später als Professor für Bildhauerei lehrte. Was aber möglicherweise überrascht, ist, dass diese Jubiläumsausstellung nicht in einem der großen Museen für moderne Kunst stattfindet, sondern im Goethe-Museum. Und doch passt die Schau in kein anderes Haus so gut wie in dieses, denn es ist in Wahrheit eine Ausstellung über die Kraft der Poesie.
Tatsächlich kann Poesie so kraftvoll sein, dass sie Künstlern keine Wahl lässt, dass sie diese fast unausweichlich zu eigenen Werken inspiriert – und das über geografische, historische und kulturelle Grenzen hinweg. Goethe und Uecker machten – obwohl sie 200 Jahre trennen – dieselbe Erfahrung mit der Dichtung des persischen Poeten Hafis (auch: Hafez) aus dem 14. Jahrhundert. „Durch das Feuer der Worte kann man spüren des Herzens Flammenglut“, heißt es in einer von dessen Ghaselen. Und es scheint, als habe dieses „Feuer“ unabhängig von Ort und Zeit sowohl den Weimarer Klassiker als auch den Gegenwartskünstler zu eigenen Werken entflammt. „[…] ich mußte mich dagegen productiv verhalten, weil ich sonst vor der mächtigen Erscheinung nicht hätte bestehen können“, schreibt der eine, während der andere gesteht: „[…] sobald ich lese, muss ich auch malen.“
In ähnlich intensiven Arbeitsphasen entstanden der „West-östliche Divan“, die größte Gedichtsammlung Goethes, und 200 Jahre später Ueckers „Huldigung an Hafez“, ein Zyklus von 42 Druckgrafiken, darunter neben Siebdrucken auch Sand- und Prägedrucke. Angeregt vom Bilderreichtum der 650 Jahre alten Verse des persischen Dichters, führt Uecker seine weit ausschwingende Handschrift mit leuchtenden Malereien in einem temperamentvollen Tanz zusammen. Die Sonderausstellung zeigt Ueckers „Huldigung“ und Goethes „Divan“ im Erstdruck und in ausgewählten Originalhandschriften, aber auch die Gedichtsammlung des Hafis, die beide inspirierte. Damit schlägt die Schau eine Brücke zwischen den Jahrhunderten und führt den Blick vom Orient zum Okzident sowie mit einer filmischen Dokumentation über Ueckers Ausstellungsreise in den Iran auch zurück von West nach Ost.
Das, was Goethe und zwei Jahrhunderte später auch Uecker an Hafis und dessen „Diwan“ unmittelbar gefangen nahm, sind die Freiheit des Geistes und die Mehrdeutigkeit der Sprache. In seinen Gedichten reizt der Meister des doppelbödigen Sprechens den Spielraum des Sagbaren eindrucksvoll aus. Das lebendige Changieren zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem, Profanem und Heiligem, Nüchternheit und Rausch, Ernst und Ironie, rhetorischer Strenge und zwangloser Umgangssprache zeugt von derjenigen geistigen Unabhängigkeit, ja Überlegenheit, die Goethe „skeptische Beweglichkeit“ nennt.
Aber es gibt noch etwas, das für beide Künstler als Rezipienten der Lyrik des Hafis in gleicher Weise gilt: Sie ließen sich durch dessen „Diwan“ nicht etwa zu einem Einzelwerk inspirieren, sondern zu einer komplexen mehrteiligen Arbeit, einer – wenn man der ursprünglichen Bedeutung des Wortes ,Diwan‘ folgt – ,(Ver)sammlung‘ von Gedichten (bei Goethe) oder Grafiken (bei Uecker), die es dem Dichter des 19. wie dem bildenden Künstler des 21. Jahrhunderts ermöglicht, auf die vielschichtigen Bedeutungsnuancen der fremden Gesänge aus ferner Vergangenheit im künstlerischen Dialog ebenso vielstimmig zu antworten.
Was die beiden Annäherungen an den „Diwan“ jedoch wesentlich voneinander unterscheidet, ist, dass Uecker sich der Welt des Hafis – anders als Goethe – auch physisch genähert hat, indem er in den Iran gereist ist. Seine große Einzelausstellung „Verletzungen – Verbindungen“ 2012 im Tehran Museum of Contemporary Art nutzte er, um das Land und dessen Kultur kennenzulernen; acht weitere Ausstellungen im Iran folgten, wo seine „Huldigung an Hafez“ gezeigt wurde und wo jeweils iranische Künstler mit eigenen Arbeiten auf Ueckers Werk antworteten und damit den west-östlichen Dialog fortsetzten.
Gemäß dem Motto „Wer den Dichter will verstehen / Muß in Dichters Lande gehen“, das Goethe dem Prosateil des „West-östlichen Divans“ vorangestellt hatte, scheint auch er in das Land des Hafis gereist zu sein, wenn er im Januar 1815 dem Freund Knebel mitteilt: „So habe ich mich die Zeit her meist im Orient aufgehalten […].“ Oder wenn er schreibt: „Ich habe mich gleich in Gesellschaft der persischen Dichter begeben […]. Schiras, als den poetischen Mittelpunct, habe ich mir zum Aufenthalte gewählt, von da ich meine Streifzüge […] nach allen Seiten ausdehne.“
„Laßt mich nur auf meinem Sattel gelten! / Bleibt in euren Hütten, euren Zelten! / Und ich reite froh in alle Ferne, / Über meiner Mütze nur die Sterne.“ Bei einem Gedicht wie diesem aus Goethes „West-östlichem Divan“ glaubt man sofort an unendliche Freiheit. Und es spielt keine Rolle mehr, ob es sich bei diesem nächtlichen Ritt gen Osten, also der aufgehenden Sonne entgegen, um eine Reise in der Wirklichkeit handelt oder um ein Abenteuer der grenzenlosen Imagination.
Günther Uecker sagt: „Die höchste Abstraktion, die der Mensch hervorgebracht hat, ist das Zeichen, das sich zum Wort bildet, sich zum bildnerisch-sprachlichen lesbaren Ausdruck verwandelt.“ Folglich hat Uecker, den man oft – die Vielseitigkeit seines Werkes verkennend – als ,Nagelkünstler‘ bezeichnet, seit 1960 eine umfangreiche Werk-Abteilung geschaffen, die explizit um die Themen Sprache, Schrift und Buch kreist. Auch daraus ist eine ganze Reihe von Arbeiten in der Ausstellung zu sehen.
So etwa auch „Graphein“, ein bibliophiles Buch, in dem Uecker sich historisch und künstlerisch mit einem guten Dutzend Schriftarten aus verschiedenen Kulturen auseinandersetzt – von der Keilschrift aus dem 4. Jahrtausend vor Christus über die chinesische, phönizische und die zypriotische Schrift, über ägyptische Hieroglyphen, die aramäische, griechische, koptische, tibetanische, arabische, hebräische und die kyrillische Schrift bis zu unseren lateinischen Buchstaben.
In Ueckers „Huldigung an Hafez“ und in Goethes „West-östlichem Divan“, werden östliche und westliche Schrift zueinander in Beziehung gesetzt und erscheinen friedlich vereint auf demselben Blatt. Neugier auf das Fremde und Selbsterkenntnis sind die Voraussetzungen für Völkerverständigung:
„Wer sich selbst und andre kennt
Wird auch hier erkennen:
Orient und Occident
Sind nicht mehr zu trennen.Sinnig zwischen beiden Welten
Sich zu wiegen lass’ ich gelten;
Also zwischen Ost- und Westen
Sich bewegen, sei’s zum Besten!“
Die Ausstellungsbesucher können die von Goethe im Gedicht dargestellte hin und her pendelnde Bewegung zwischen Ost und West im Kleinen fortsetzen. Nachdem sie im Goethe-Museum im Osten der Innenstadt die Werke eines westlichen Künstlers gesehen haben, können sie zur im Westen des Stadtzentrums liegenden Galerie Breckner gehen, um dort die Arbeiten der acht östlichen Künstler zu betrachten, die auf Ueckers „Huldigung an Hafez“ antworten.
Übrigens wandeln sie auf dem Weg von Düsseldorf-Pempelfort in die Altstadt auch auf Goethes Spuren, der – ebenfalls der Kunst wegen – vom Landgut seines Freundes Friedrich Heinrich Jacobi aufbrach, um sich in der Düsseldorfer Gemäldegalerie in die Kunstbetrachtung zu versenken. Der Weg führte ihn damals und uns heute über die Straße, die Napoleon 1811 bei aufgehender Sonne gen Osten ritt und die dieser deshalb „Rue du matin“ nannte, woraus die Düsseldorfer in ihrer Mundart „Retematäng“ machten.
Als Goethe den „Diwan“ des Hafis las und sich davon zu seinem „West-östlichen Divan“ inspirieren ließ, schrieb er, dass er durch seine neue Tätigkeit „verjüngt und zu früherer Thatkraft wiedergeboren“ werde. So wird die Anverwandlung eines Werks zur Wiedergeburt. Uecker machte ähnliche Erfahrungen mit der Kraft dieser doch so fernen und fremden Poesie. „Das ist so voller Leben“, sagt er, „dass es wie eine Geburt ist, wenn man liest.“
So werden Verse aus der fernen Vergangenheit fruchtbar. Die Sonderausstellung „,Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.‘ Uecker – Hafis – Goethe“ zeigt Nahes und Fernes, Gegenwärtiges und Vergangenes:
„Und so wollen wir beständig,
Wettzueifern mit Hafisen,
Uns der Gegenwart erfreuen,
Das Vergangne mitgenießen.“
Ausstellungen
„Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen“
Uecker – Hafis – Goethe
bis 15. November 2020
„Huldigung an Hafez“
bis 9. Oktober 2020
Galerie Breckner, Düsseldorf
Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 4/2020.