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Goethe-Jahrbuch 2019 – Vorwort
Goethes Alterswerk ist ein seltenes, erstaunliches Phänomen. Dass ein alter Mann mit seiner Zeit überkreuz liegt, kommt zwar häufig vor. Doch in nur wenigen Fällen werden sich spätere Generationen mehrheitlich auf seine Seite stellen und in dem einsamen Alten das eigene Engagement wiedererkennen. In seinem Spätwerk zeigt sich Goethe als unzeitgemäßer Avantgardist, der dem 20. und 21. Jahrhundert verwandter ist als seiner eigenen Gegenwart. Er tritt für das Konzept der Weltliteratur ein, während sich in Deutschland die kulturelle Nationalisierung durchsetzt und ein patriotischer Nationalliteratur-Kult beginnt. Er schreibt mit dem zweiten Teil des Faust ein so inhomogenes, hybrides Theaterstück, dass die ästhetische Theoriebildung fast anderthalb Jahrhunderte bis zum Neostrukturalismus braucht, um dafür angemessene Kategorien zu formulieren. Er bezeichnet sich selbst, was seine literarische Produktivität betrifft, als ein Kollektivwesen, als das schöpferisch-autonome Individuum noch für sehr lange Zeit das Leitbild aller Kunst- und Dichtungsdiskurse darstellt. Und er bietet mit dem West-östlichen Divan eine Balance aus Nach-, Um- und Neubildung mittelalterlicher persischer Gedichte, die ganz und gar nicht den Originalitäts-, Individualitäts- und nationalkulturellen Erwartungen der Zeitgenossen entspricht. Die Irritation, ob man es hier mit Übersetzungen oder Originalen zu tun hatte, sah Goethe selbst als den Grund dafür an, warum diese Sammlung auf so geringe Resonanz stieß.
Die Erstausgabe des Divan im Jahr 1819 (die, wie es heißt, noch bis ins 20. Jahrhundert hinein lieferbar war) bot den Anlass, genau 200 Jahre später die Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft diesem Werk zu widmen. Das vorliegende Jahrbuch versammelt die Vorträge und die Podiumsbeiträge aus diesem Weimarer Divan-Sommer 2019. Nicht 200, sondern 20 Jahre zuvor hatten der Dirigent Daniel Barenboim und der Literaturwissenschaftler Edward W. Said zusammen mit dem Weimarer Kulturhauptstadt-Intendanten Bernd Kauffmann einen eigenen Meilenstein der Divan-Rezeption gesetzt: Sie gaben einem neuen, jungen, je zur Hälfte aus arabischen und israelischen Musikern besetzten Orchester den Namen von Goethes Gedichtsammlung und drückten damit ihre Hoffnung aus, dass es zur Versöhnung zwischen Israel und den arabischen Ländern beitragen möge. Das West-Eastern Divan Orchestra besteht bis heute und tritt weltweit auf. Eine größere und dringendere Hoffnung, als dieses völkerverbindende Musiker-Ensemble verkörpert, wird man mit Goethes Titel kaum verbinden können. Die Namensgebung zeigt, welche Inspiration und Ermutigung von diesem jahrhundertealten Alterswerk bis heute ausgehen kann. Wenn man von den aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten erfährt, zeigt sich aber zugleich die unüberbrückte Kluft zwischen solchen poetisch- musikalischen Ermutigungen und der politischen Wirklichkeit. Gewiss: Goethes Divan ist ein großartiges Zeugnis kultur- und religionsübergreifender Verständigung. Doch ist es wohl eher so, dass man diesen Verständigungswillen schon mitbringen muss, um zu Goethes Gedichten zu finden. Dass sie ihn von sich aus erzeugen könnten, ist ein sehr literaturfrommer Wunsch.
Im Divan geht es vor allem um Liebe und Mystik, ausgedrückt im Stimmungsfeld zwischen Sehnsucht und Genuss, Bekenntnis und Ironie. Dass man damit etwa die Feindbildverhärtungen aufweichen könnte, die der islamistische Terrorismus geschaffen hat, wäre keine passende didaktische Aktualisierung, sondern eher deren Karikatur. Der Divan taugt nicht zur aktuellen Krisenbewältigung. Sein politisches Gewicht liegt woanders: Er bringt einen Standpunkt jenseits der nationalkulturellen Identitäten zum Ausdruck und kostet diesen Standpunkt glücklich aus. Die Gedichte mischen abend- und morgenländische Motive, Mythen und Anschauungsformen so, dass ihre Unterschiede als zufällig und unbedeutend erscheinen gegenüber der gemeinsamen Basis des Menschlichen.
Die Divan-Beiträge dieses Jahrbuchs eröffnen einen weiten Blick: Sie rekonstruieren die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte dieses Werks, insbesondere auch in der Musik, aber auch in der neueren arabischen Dichtung; sie greifen zugehörige politische Debatten auf, bedenken seinen Platz in der Lyrikgeschichte und beziehen aus aktueller Position heraus Stellung, auch aus der Position eigener, aktueller Schriftstellerei. Durch Information, Urteil und persönliche Stellungnahme schaffen sie – so hoffen wir – Aufmerksamkeit und Neugier, um diese 200 Jahre alte Sammlung wieder einmal zur Hand zu nehmen und selbst zu prüfen, was man an ihr hat. Der genauere Blick auf ein Divan-Gedicht rundet das Hauptthema dieses Bandes ab.
Die weiteren Abhandlungen bringen Vielfalt. Sie reicht von Goethes früher Lyrik (Mayfest) und Dramatik (Stella) über die Kunstlehre (Über Laokoon) und Immermanns ›Befreiung‹ von Goethe bis zu Thomas Manns Goethe-Ausgabe im kalifornischen Exil. Die Philologie-Rubrik stellt zwei wichtige editorische Großprojekte vor: die historisch-kritische Edition von Goethes Tagebüchern und die Regestausgabe der Briefe an Goethe, die beide am Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar erarbeitet werden. Das neu gelesene alte Goethe-Buch ist diesmal Fritz Strichs Goethe und die Weltliteratur von 1946. Es passt zum Divan-Schwerpunkt, weil es vor einem noch katastrophaleren Hintergrund als den heutigen west-östlichen Konflikten das Problem aufwirft, welche Wirksamkeit literarische Alternativen zur realen politischen Verhärtung und Gewalt haben können. Die Rubrik Miszellen bietet eine Reihe von Fundstücken, die Rezensionen halten wie üblich über die aktuelle Goethe-Forschung auf dem Laufenden. Und wie immer beschließen die Nachrichten aus der Goethe-Gesellschaft und ihren Ortsvereinigungen den Band.
Das Jahrbuch ist das gedruckte Leben der Goethe-Gesellschaft, das fachwissenschaftliche Goethe-Forschung und außerfachliches, allgemeines gesellschaftlich-kulturelles Interesse vereint. Man kann es so schwarz auf weiß nach Hause tragen, aber nicht nur nach Hause, sondern auch in die Welt. In den wissenschaftlichen Bibliotheken ist es präsent und auch bei Ihnen zu Hause ist es in guten Händen. Aber vielleicht geben Sie es auch einmal weiter, mit der einen und anderen Leseempfehlung, was Sie angesprochen hat – damit möglichst viele an dem Leben der Goethe-Gesellschaft teilhaben.
Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen im Namen der Herausgeber
Stefan Matuschek
Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 3/2020.