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Goethe oder nicht Goethe? Ein altes Rätsel und seine heutige Auflösung

von Jochen Golz

Goethes Leben ist, diese Behauptung kann gewagt werden, das vielleicht besterforschte Leben eines Deutschen überhaupt. Das ist zunächst Resultat von Goethes eigener Leistung als autobiographischer Autor: ca. 20.000 Briefe wird er geschrieben haben, mindestens ebenso viele hat er erhalten. Seine Tagebücher, in jungen Jahren nur sporadisch überliefert, dokumentieren seit der Rückkehr aus Italien intensiver seinen Alltag. Hinzu treten seine autobiographischen Projekte, die er unter den Titel „Aus meinem Leben“ gestellt hat und deren ersten und gewichtigsten Teil er mit dem Untertitel „Dichtung und Wahrheit“ versehen hat. Wie bei Berühmtheiten nicht selten, haben die Zeitgenossen Goethes Nähe gesucht und Zeugnisse ihrer Gespräche mit ihm hinterlassen. Hinzu trat eine biographisch orientierte Forschung, die in nahezu jeden Winkel von Goethes Leben hineingeleuchtet hat.

So könnte man meinen, dass alle Fragen zu Leben und Werk geklärt sind – beinahe alle sind geklärt, soweit sie Fakten betreffen, kann man glaubwürdig sagen. Während Goethe, in Weimar endgültig sesshaft geworden, Zug um Zug ein Archiv seiner selbst einrichtete, so dass sich die Zahl ‚zweifelhafter‘ Texte fortan gegen Null bewegte, sah es bei seiner jugendlichen Produktion noch anders aus. Vieles erschien anonym, so dass Goethe sich zuweilen gegen öffentliche Zuschreibungen zur Wehr setzen musste, die seinem Ruf hätten schaden können; nicht er, sondern Heinrich Leopold Wagner habe eine bestimmte Satire geschrieben, ließ er in einem Fall erklären. Im Alter kam Goethe manchmal auch die korrekte Erinnerung abhanden. Eckermann beauftragte er mit einer Auswahl eigener Besprechungen aus den „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“ 1772 und 1773, ohne zu bedenken, dass er am Jahrgang 1773 nicht mehr mitgearbeitet hatte.

Zeitschriftenbeiträge, das traf auch für die „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“ zu, erschienen entweder ganz anonym oder wurden am Ende mit (verrätselnden) Kürzeln markiert. Als sich in Goethes erstem Weimarer Jahrzehnt einige aufgeklärte Geister um die Herzoginmutter Anna Amalia und ihre Hofdame Louise von Göchhausen nach französischem Vorbild zu einer Journalgründung verabredeten, war das anonyme Erscheinen aller Beiträge selbstverständlich. Dieses Journal, nach Anna Amalias Sommersitz Tiefurt benannt, wurde nicht gedruckt, sondern von Schreibern hergestellt und an wenige Bezieher versandt. In Band 74 der Schriften der Goethe-Gesellschaft ist es vollständig und reich kommentiert zugänglich. Damals wie heute gab es eine Fama, und da manche Absprachen nicht geheim blieben – dann zum Beispiel, wenn der Theatertischler Johann Martin Mieding starb und Goethe für ihn ein hochbedeutendes gereimtes Requiem schrieb –, haben die Philologen in vielen Fällen die Anonymität auflösen können.

Ein Text aus dem „Journal“ aber hat ihnen besonderes Kopfzerbrechen bereitet. Im 32. Stück erschien unter dem Titel „Fragment“ ein Prosahymnus auf die Natur; nur den wenigen lesenden Empfängern zugänglich und sogleich archiviert, geriet er in Vergessenheit. Jahrzehnte später, am 23. Mai 1828, notierte Goethe in seinem Tagebuch: „Herr Kanzler von Müller brachte einen merkwürdigen naturphilosophischen Aufsatz aus der brieflichen Verlassenschaft der Frau Herzogin Anna Amalia. Frage: ob er von mir verfasst sei?“ In Goethes Antwort an den Kanzler findet sich der Satz: „Daß ich diese Betrachtungen verfaßt, kann ich mich faktisch zwar nicht erinnern, allein sie stimmen mit den Vorstellungen wohl überein, zu denen sich mein Geist damals ausgebildet hatte“ (S. 15).

Was lag Goethe-Freunden näher, als alle Bedenken beiseite zu lassen und Goethe zum Verfasser des Textes zu erklären? Deren Reihe ist lang und prominent. Sie hebt mit Carl Gustav Carus an, setzt sich mit Ernst Haeckel fort und reicht bis zu Werner Heisenberg. Rudolf Steiner gar hat darin Goethes „Lebensprogramm“ gesehen. Mittlerweile hat man sich auf den Schweizer Theologen Georg Christoph Tobler als Autor verständigt, der sich im Sommer 1781 in Weimar aufgehalten hatte; auch hätten manche sprachliche Wendungen den Goethe-Kenner von vornherein misstrauisch stimmen können. Ob August von Einsiedel als Verfasser in Frage kommen könnte, wie Veit Noll behauptet hat, erscheint mir doch sehr fraglich.

Wer sich gegenwärtig über die verzwickte Geschichte informieren möchte, hat dazu allerbeste Gelegenheit. Als Jahresgabe der Goethe-Gesellschaft Kassel 2023 ist eine prachtvoll ausgestattete kommentierte Edition des Natur-Fragments erschienen. Ihr Prinzip ist untadelig zu nennen. In einem zeilengetreuen Paralleldruck von Transkription und Faksimile der Handschrift wird der Text präsentiert. Ihm schließt sich ein ausführliches Nachwort von Stefan Greif und Stefan Grosche an, das wünschenswerte Aufklärung liefert. Anknüpfend an Goethes eigene Aussage, dass der Text „mit den Vorstellungen wohl überein“ stimme, „zu denen sich mein Geist damals ausgebildet hatte“, wird der Frage nachgegangen, „welche naturwissenschaftlichen und wissenschaftsmethodischen Anregungen des jungen Goethe Eingang in das Natur-Fragment gefunden haben und inwiefern es tatsächlich zwischen diesen Einflüssen und Goethes späterem Naturverständnis vermittelt“ (S. 21). Diese Aufgabe wird in einer ebenso konzentrierten wie anschaulichen Darstellung gelöst. Sie führt bis zu naturwissenschaftlichen Bekundungen des sehr alten Goethe, die Kontinuität in seinem Naturdenken zu erkennen geben.

In vielfacher Hinsicht hat Goethes Naturdenken neue, bedenkenswerte Aktualität erlangt. Nicht zuletzt diese Aktualität war für die Goethe-Gesellschaft in Weimar Anlass, die diesjährige Hauptversammlung thematisch entsprechend zu profilieren. Eine sinnvolle Begleitlektüre stellt die Kasseler Veröffentlichung dar.

(c) Goethe-Gesellschaft Kassel

Fragment. Aus dem „Tiefurter Journal“, 32. Stück 1782/83 (Verfasser anonym)
Mit einem Nachwort versehen von Stefan Greif und Stefan Grosche

Kassel 2023
62 Seiten
ISBN 978-3-95978-087-2


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