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Erinnerungen an eine bewohnbare Welt: Italien-Reisen und das Haus Goethe
Es gehört zu den erfreulichen Tendenzen im Wirken der Ortsvereinigungen unserer Gesellschaft, dass nicht wenige unter ihnen mit schön gestalteten Jahresgaben – für ihre Mitglieder, aber auch für Interessierte überhaupt – an die Öffentlichkeit treten. Haben wir bereits eine Jahresgabe aus Kassel vorgestellt, so ist im Folgenden eine Jubiläumsausgabe der besonderen Art anzuzeigen. Veranstaltet hat sie die Hamburger Goethe-Gesellschaft, die 2024 auf ihr hundertjähriges Bestehen zurückblicken konnte. Bereits 2021 hatte sie einen von Volker Wolter besorgten Band herausgegeben, der den Venedig-Reisen der Familie Goethe gewidmet war. Der gleiche Autor hat auch den neuen Band geschaffen – dieses Wort in seiner umfassendsten Bedeutung verstanden. Denn Volker Wolter ist nicht nur der Eigentümer einer beeindruckenden Sammlung historischer Italien-Fotos, er ist darüber hinaus ein Goethe-Kenner par excellence und zudem der Schöpfer von Satz und Layout seines Buches; selten ist zu erleben, dass derlei glückliche Eigenschaften in einer Persönlichkeit sich beisammen finden.
Was die Komposition seines Buches betrifft, so kann er die im Venedig-Band bewährten Prinzipien erneut befolgen. Mit kundiger Hand hat er aus Italien-Texten der Familie Goethe – der „Viaggio per Italia“ von Johann Caspar Goethe, Johann Wolfgang Goethes „Italienischer Reise“, Briefen und Tagebuchauszügen von August von Goethe und dessen Ehefrau Ottilie – Passagen ausgewählt, die sich zu historischen Fotos in Beziehung setzen lassen. Der Weg führt die Reisenden „ultra montes“ von Norden nach Süden und endet in Neapel. Da nur Johann Wolfgang Goethe nach Sizilien übergesetzt ist, hat Wolter auf ein Sizilien-Kapitel verzichtet. Auch sonst sind nicht von allen Stationen Urteile aller vier Reisenden überliefert; Pisa z. B. hat der Dichter Goethe nicht aufgesucht. Die Kombination von Text und historischem Foto ist insofern von besonderem Reiz, als Wolters plausibler Argumentation zufolge in den Fotos ein Italien dokumentiert ist, wie es von den Goethe-Reisenden noch mit großer Wahrscheinlichkeit wahrgenommen werden konnte. So wie Paris unter Napoleon III. im Sinne der zivilisatorischen Moderne umgestaltet worden ist, so ist vor allem Rom schon im 19. Jahrhundert, später dann unter Mussolinis Herrschaft ‚modern‘ verändert worden. Die Fotos – aus Wolters eigener Sammlung, aber auch aus öffentlichen Archiven – zeigen dem heutigen Italien-Reisenden die Unterschiede auf.
Für Wolter sind die Phasen dieser Modernisierung ein zwiespältiges Phänomen. Zwar trauert er nicht einem vermeintlich ursprünglichen Volksleben nach, dessen Schattenseiten – Elend und Verwahrlosung – partiell zumindest in den Fotos (etwa aus Neapel) erkennbar werden, doch er sieht in den Bildzeugnissen aus der Vergangenheit nicht zuletzt Dokumente einer bewohnbaren Welt, die in einem von Touristen überschwemmten Italien unterzugehen droht. Eindringlich macht er darauf in seinem einleitenden Essay aufmerksam, der sich zudem Themen wie dem beschwerlichen Reisen mit der Kutsche, historischen Ortschaften als Palimpsesten und den Motiven der vier Reisenden widmet. Dort wie auch in den Kommentaren, die er den ausgewählten Texten zuordnet, gibt er sich als ein Autor zu erkennen, der die Goethe-Forschung bis in ihre jüngsten Publikationen kennt und sie souverän zu nutzen versteht. Auch seine kunstgeschichtlichen Exkurse stellen ihm ein gutes Zeugnis aus. Und ganz am Rande: Sein schönes Plädoyer für das generische Maskulinum verdient unbedingte Nachahmung.
Das so entstandene Italien-Panorama ist von hohem Reiz und sollte möglichst viele Betrachter und Leser finden. Vermisst habe ich eine ISBN-Nummer. Sollte die Hamburger Goethe-Gesellschaft nur eine Privatauflage für ihre Mitglieder veranlasst haben, so sollte diese Entscheidung noch einmal überdacht werden. Aus meiner Sicht wäre der Band – in einem aparten Querformat – es wert, in die Hände einer größeren Öffentlichkeit zu gelangen. Denn wie man im Einzelnen den heutigen Tourismus auch beurteilen mag, es gibt immer noch genug Freunde Goethes und Italiens, die dem Dichter und seiner Familie auf ihrem Weg in den Süden „ultra montes“ zu folgen bereit sind.
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Volker Wolter
Ultra montes – bewohnbare Welt. Italien-Reisen und das Haus Goethe
Mit einem Essay und Erläuterungen des Autors sowie historischen Photos aus Italien 1860-1895
Hrsg. von der Goethegesellschaft Hamburg aus Anlass ihres 100-jährigen Bestehens 2024
Hamburg 2024
148 Seiten