Blog

Neue Bücher

Vaterland als transnationaler Lebensraum

von Andreas Rumler

Bereits seit 1955 bietet die Goethe-Gesellschaft in Kassel ihren Mitgliedern Jahresgaben. Inzwischen ist eine stattliche Reihe zusammengekommen; sie dokumentiert gleichermaßen einen repräsentativen Überblick über die Goethe-Forschung des letzten halben Jahrhunderts und zugleich auch die Bandbreite all jener Themen, die in der Ortsvereinigung diskutiert wurden. Im Auftrag des Vorstandes wird die Jahresgabe jetzt herausgegeben von Maja Fischer, Tobias Leiß und Stefan Grosche.

Im Jahr 2019 gelang es den Goethe-Freunden, den Kasseler Germanisten Professor Dr. Stefan Greif zu gewinnen, der sich unter dem Titel „Goethe im Krieg“ mit zwei zentralen autobiographischen Texten Goethes auseinandersetzt: mit der „Campagne in Frankreich 1792“ und der „Belagerung von Mainz“. Beide erschienen erstmals 1822 und nehmen „unter den autobiografischen Schriften Goethes“ – so die Herausgeber – „eine merkwürdige Stellung“ ein (S. 1). Kritiker monierten, die militärischen Auseinandersetzungen würden kaum durch Augenzeugenberichte wiedergegeben, noch fühle sich der Autor bemüßigt, „sich differenziert mit den historischen und weltpolitischen Zusammenhängen zu beschäftigen“ (S. 1). Stattdessen berichte Goethe, wie er „inmitten des Feldlagers vor Verdun“ – also während der kriegerischen Ereignisse – „entrückt seine Farbstudien betrieben“ habe (S. 1).

In seinen detaillierten und mit umfangreichen Zitaten unterfütterten Ausführungen weist Stefan Greif nach, dass Goethe zwar als loyaler Gefolgsmann seines Herzogs Carl August das Geschehen beobachtete, dass er aber keine der damals üblichen Formen der Kriegsberichterstattung lieferte, die – nicht anders als heute – als Teil der politischen Propaganda „der Desinformation des Gegners“ und der „Manipulation der eigenen Landsleute“ dienen sollte (S. 5). Goethe habe diese „Pflichten“ ignoriert und stattdessen „das Erlebte als folgenschweren Angriff auf die Kultur aller beteiligten Kriegsparteien“ geschildert (S. 5). In einem Brief charakterisiert Goethe seine „Militairlaufbahn“ als eine „Erbkrankheit der Welt“ (S. 8). „Schlaglichtartig“ veranschauliche Goethe an einzelnen Szenen „die Verrohung chaotisch befehligter Truppen“ (S. 12).

Differenziert schildere Goethe, wie die Kriegserlebnisse auch ihn in seinem Verhalten und seiner Haltung beeinflussen. Trotz gelegentlicher heiterer Momente wie an einem „feuchtfröhlichen Abend mit verwundeten Offizieren“ (S. 16) beobachtet er an sich eine Abstumpfung seiner Gefühle und seines sozialen Handelns. So ende die „Belagerung von Mainz“ nicht mit der „Schilderung bürgerlicher Humanität“, sondern „mit dem Porträt eines mitmenschlich geradezu verwahrlosten Erzählers“ (S. 18). Goethe avanciere „zum Kronzeugen einer nunmehr von Menschen gewirkten ‚Re-Barbarisierung‘“ (S. 19).

Natürlich ist der Weltbürger Goethe frei von nationalistischen Ressentiments jedweder Art. Er sieht die Leiden der Opfer, ohne als Mitglied der Invasionsarmee aus Deutschland den Gegner zu verunglimpfen oder direkt die Politik der Feudal-Herrscher und Preußens zu verurteilen. Deshalb grenzt Stefan Greif Goethes Vorstellung von Heimat ab vom „Idyll als vorhistorischer Ort, dem sich heutzutage insbesondere rechte Populisten zuwenden, ohne es anders als verschwörungstheoretisch oder rassistisch begründen zu können“ (S. 23). Und er folgert daraus: „Im Kontext beider Kriegsberichte wird Vaterland hier als transnationaler Lebensraum verstanden, der gesamtkulturelle Identität stiftet und zugleich lokale Möglichkeiten der Selbstfindung anbietet.“ (S. 23)Stefan Greif demonstriert überzeugend, dass Goethes Darstellungen von Krieg und Propaganda bis heute leider ungeheuer aktuell geblieben sind und dass der häufig als „Weimarer Hofdichter“ (S. 1) abqualifizierte Autor mit subtiler Kritik gängige Klischees zu unterlaufen und zu konterkarieren vermag. Nicht nur wegen der leidigen Aktualität von Kriegen und Konflikten lohnt es sich, diese Studie zu lesen. Sie belegt überzeugend, wie ein aufmerksamer Geist Distanz zu dem damals bis heute verbreiteten klischeehaften Nationalismus gewinnen kann – Tucholsky sprach einmal von „Nationalbesoffenheit“ – und gleichzeitig das eigene Handeln kritisch zu hinterfragen in der Lage ist. Deshalb kann man der Kasseler Goethe-Gesellschaft nur gratulieren zu diesem gelungenen Präsent an ihre Mitglieder, etwa mit den Worten unseres Namenspatrons: „Denn, was man schwarz auf weiß besitzt, / Kann man getrost nach Hause tragen“.

Stefan Greif
Goethe im Krieg

Jenior Verlag, Kassel, 2019 
29 Seiten 
ISBN: 978-3-95978-080-3 

Preis: 7,00 €

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 1/2020.


Schlagwörter