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„Treffliche Tugendschule“ und handfeste Skandale – Bertold Heizmanns kleines Goethe-Brevier der etwas anderen Art

von Andreas Rumler

Generationen von Gymnasiasten entwickelten Berührungsängste im Umgang mit deutscher Klassik, weil herz- und humorlose Pädagogen ihnen Weimars Dichterfürsten als strahlende Götter der Literatur nahezubringen versuchten: oft als unnahbare Ikonen. Himmelhochweit entrückt aus allen menschlichen Niederungen leuchteten sie den irritierten Kindern und langweilten sie dauerhaft, häufig lebenslang. Berichte gibt es über als endlos erlittene Unterrichtsstunden, die den Charakter von kultischen, religiösen Übungen annahmen, in denen Gedichte wie Gebete vorgetragen wurden.

Bertolt Brecht dachte zwar nicht an Schulen, als er von „Einschüchterung durch Klassizität“ sprach: „An Stelle des echten Pathos der großen bürgerlichen Humanisten trat das falsche Pathos der Hohenzollern, an Stelle des Ideals trat die Idealisierung, an Stelle des Schwungs, der eine Beschwingtheit war, das Reißerische, an Stelle der Feierlichkeit das Salbungsvolle usw. usw. Es entstand eine falsche Größe, die nur öde war.“ Leider hat er Recht: „Der wunderbare Humor Goethes in seinem ‚Urfaust‘ paßte nicht zu dem würdevollen olympischen Schreiten, das man den Klassikern zuschrieb, als ob Humor und echte Würde Gegensätze wären!“

„Es geht auch anders …“, versucht Bertold Heizmann dagegen zu zeigen und eben nicht: „doch so geht es auch …“ Als Co-Autor dreier schmaler, gut lesbarer Monographien über Goethe, Schiller und Heine zusammen mit Dagmar Gaßdorf hat er bewiesen, dass man auch – salopp gesagt – PR für Klassiker machen kann, nicht immer auf akademischem Niveau vielleicht, aber die Fakten korrekt präsentierend. Wir haben in früheren Ausgaben unseres Newsletters darüber berichtet:

Denn genau das ist eines der Anliegen der Goethe-Gesellschaft in Weimar und ihrer „Töchter“. In der Satzung der Essener Ortsvereinigung, deren Vorsitz Bertold Heizmann innehat, liest man: sie „will vielen Menschen die Werke Goethes, ihre weltliterarische Bedeutung und die neuzeitlichen Bemühungen um das Goethebild in Forschung und künstlerischer Auseinandersetzung vermitteln.“ Das funktioniert auch vor Ort besser, wenn die Klassiker nicht mit würdevollem ‚olympischen‘ Pathos vorgestellt werden, sondern augenzwinkernd, mit Humor.

Den beweist Bertold Heizmann einmal mehr mit seiner Sammlung von Aufsätzen, zu unterschiedlichen Anlässen sind sie entstanden. Eine Art persönlicher Jahresgabe. Wieder unter einem Titel, der nicht jedermanns Geschmack entsprechen dürfte: „Eigentlich ein Hund, dieser Goethe! – Ziemliches und Unziemliches“. Den Vergleich mit dem Goethe nicht sympathischen Vierbeiner hat er Gottfried Benn entlehnt, spielerisch an Goethes Wort aus dem Tasso erinnernd: „Erlaubt ist, was sich ziemt“ (S. 7).

Neun Vorträge sind darin versammelt auf 200 Seiten, die bestimmte Aspekte des „olympischen Urgroßvaters“ – ebenfalls eine Formel von Benn: durchaus familiär-freundschaftlich zu verstehen – aufs Korn nehmen, mit ironischen Querschlägen oder feinerem Schrot. Neue Forschungsergebnisse legt er nicht vor, sondern launige Plaudereien; sie verbindet, dass man unwillkürlich versucht ist, ins Regal zu greifen und bei Goethe selbst nachzulesen.

In den Aufsätzen zeichnet Heizmann detailliert und amüsant Kontroversen um Goethe nach oder Auseinandersetzungen, an denen er beteiligt war. Deshalb erscheint er nicht als strahlende Lichtgestalt. Etwa bei Caroline Jagemanns intrigantem Einsatz für den Auftritt eines Hundes auf der Bühne, der zu Goethes Rückzug von der Theaterleitung führte: „‚Nie gehörte Töne‘. Eine Sängerin wird aufmüpfig“ (S. 37–68). Goethe musste die Erfahrung machen, dass Lessings „Nathan der Weise“ und Schillers Dramen in Weimar zwar „guten Anklang“ (S. 71) fanden, er als Intendant aus finanziellen Gründen aber ein Programm zu präsentieren hatte, das dem seichteren Publikumsinteresse entgegenkam. „So werden Stücke des Erfolgsautors August von Kotzebue während des Vierteljahrhunderts von Goethes Intendanz sage und schreibe 638mal aufgeführt (statistisch heißt das: alle 14 Tage ein Stück); auch Iffland liegt mit 354 Aufführungen weit vor Schiller oder gar Goethe selbst.“ (S. 71)

Ein „Skandal“ sei „immer unterhaltsam“ (S. 69), weiß Heizmann und so erzählt er pointiert, wie Goethe das Stück „Ion“ von August Wilhelm Schlegel in seiner Funktion als Direktor des Theaters und Regisseur auf die Bühne brachte: „‚Ach, Freund, wohin ist Goethe gesunken …‘ Ein Theaterskandal im klassischen Weimar und das Scheitern des Projekts ‚Romantisierung der Antike‘“ (S. 69–84). Empört äußerte sich Caroline Herder zur Aufführung gegenüber Goethes „Urfreund“ Knebel: ein „schamloseres, sittenverderbenderes Stück“ (S. 69) sei noch nicht gegeben worden. Im klassischen Weimar, lernen wir, menschelte es gewaltig.

Das kann Heizmann auch an Hand der Aufführung und besonders der beiden Fassungen von Goethes „Schauspiel für Liebende“ demonstrieren: „‚Stella‘ und der zwiebeweibte Graf – Zur literarischen Karriere eines Männertraums“ (S. 85–116). Welche Wellen das Stück schlug und wie weit sie für Aufregung sorgten, belegt ein Zeitungs-Artikel, der 1776 im damals noch dänischen Altona erschien. Als „treffliche Tugendschule“ wird es bezeichnet, allerdings als eine der „Entführungen und Vielweiberei“, Pastor Johann Melchior Goeze im benachbarten Hamburg unterstellte dem Werk gar „Gotteslästerung“ (S. 96).    

Handfeste Skandale bieten nicht zuletzt Konkurrenz und Animositäten von Autoren. Breiten Raum nimmt die Auseinandersetzung mit den Romantikern ein: „‚Klassisch ist das Gesunde, Romantisch das Kranke‘ – Goethes Kritik am ‚Romantischen‘“ (S. 117–142). Oder die Frage, wie Schriftsteller ihre Rolle und Aufgaben begreifen: „Kraftgenies im Kastratenjahrhundert – Über den Wandel des dichterischen Selbstverständnisses im 18. Jahrhundert“ (S. 169–187). Natürlich gab es bereits zur Zeit der Weimarer Klassik geschäftstüchtige Vielschreiber; unterhaltsame Kassenschlager produzierten sie en masse zur Begeisterung des Publikums wie eben Kotzebue; daneben gab es, als Gegenmodell, Schillers Forderung nach „Gedankenfreiheit“ oder Goethes Tabubruch im „Werther“, in Altona als „Schule des Selbstmordes“ verteufelt. Klar, dass Rivalen beider Seiten auch munter polemisch aufeinander eindroschen.

Mit seinem Stück „Der Graf von Gleichen. Ein Spiel für lebendige Marionetten“ lieferte Kotzebue nichts weniger als eine Parodie auf Goethes „Stella“ und erwähnte zur Sicherheit auch, wem der Spott galt, indem er seinen Grafen sagen lässt, er „lief’re Göthe‘n Stoff zu einer Ketzerey“ (S. 105). Angesichts seiner internationalen Bühnenpräsenz fühlte Kotzebue sich überlegen und haderte damit, in Weimar ungeachtet aller Erfolge weniger anerkannt zu sein als das Dioskuren-Duo. Das Drama seiner Ermordung 1819 erinnert Nachgeborene an ihn, weil es einen Vorwand für die „Karlsbader Beschlüsse“ lieferte.     

Den Charme von Bertold Heizmanns Aufsätzen macht seine tiefe Zuneigung zu Goethe aus. Die hat ihn offenbar motiviert, mit dieser Sammlung ein kleines Dichter-Brevier vorzulegen, freilich eines der etwas anderen Art.

(c) Schrenk-Verlag

Bertold Heizmann
Eigentlich ein Hund, dieser Goethe! Ziemliches und Unziemliches

Röttenbach 2022
200 Seiten, mit Illustrationen
ISBN 978-3-910284-60-9

Preis: 17,90 €


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