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Spätlese eines Hochbetagten
Noch rechtzeitig vor dem 95. Geburtstag des Autors erschien der hier zu besprechende Sammelband auf dem Buchmarkt. Vier Aufsätze der letzten Jahre sind es, die die große Bandbreite des wissenschaftlichen Schaffens des Leipziger Musikpädagogen noch einmal vor Augen führen. Eine besondere Gegenwartsnähe gewinnen dabei die 2019 publizierten Aussagen in „Freuds Gedanken über Macht, Gewalt und Krieg als Zeugnis ihrer Aktualität“. In einem Antwortschreiben an Albert Einstein, welcher sich nach Möglichkeiten erkundigt hatte, „die psychische Entwicklung der Menschen so zu leiten, dass sie den Psychosen des Hasses und des Vernichtens gegenüber widerstandsfähiger werden“, hatte Freud auf den „Aggressions- oder Destruktionstrieb“ verwiesen. „Der ideale Zustand“, so meinte Freud, „wäre natürlich eine Gemeinschaft von Menschen, die ihr Triebleben der Diktatur der Vernunft unterworfen haben.“ Das freilich sei „höchstwahrscheinlich eine utopische Hoffnung“. Allenfalls könne man auf den „Prozeß der Kulturentwicklung“ setzen, denn: „Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg.“ An diesem Diktum festzuhalten, auch angesichts der gegenwärtigen verworrenen politischen Situation, sollte jedem Kulturbeflissenen Ansporn genug sein.
Analogien zu aktuellen politischen Endzeitszenarien sind es offenbar auch, die Dreßler veranlasst haben, den Zerfall der Donaumonarchie und deren Widerspiegelung im Werk bedeutender Autoren jener Zeit zu betrachten. In dem 2020 publizierten „Essay über Kafkas, Roths und Musils Umgang mit dem Niedergang der Donaumonarchie“ lädt er seine Leser ein, über „Sinnfragen“ des Lebens nachzudenken.
Belesenheit und Kenntnisreichtum im Bereich der europäischen Kulturgeschichte verraten die Ausführungen zum Thema „Französische Literaturbeispiele vom 17. bis zum 19. Jahrhundert“. Auf eine ganz persönliche Konfliktkonstellation macht „Der Vergleich (ein erschütterndes Analogie-Beispiel)“ aufmerksam. Die Lektüre von Pascal Merciers Roman „Das Gewicht der Worte“, der, kurz umrissen, von einem Übersetzer handelt, der seinem Leben in Folge einer ärztlichen Fehldiagnose eine gravierende Wendung angedeihen lässt, veranlasste Hilmar Dreßler, dem Leser einen Blick in die eigene Erfahrungs- und Gefühlswelt zu erlauben. In einer den Texten vorangestellten „Anmerkung“ verweist der Jubilar auf sein Credo: „Neues zu erkunden und dank steter Geisteskraft zu Papier zu bringen.“ Mögen ihm noch viele solcher Momente vergönnt sein.
Hilmar Dreßler
Spätlese eines Hochbetagten
Sammelband
Westarp 2022
kartoniert, 130 Seiten
ISBN: 978-3-96004-117-7
Preis: 21,95 €
Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 3/2021.