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Kompendium mit Korrekturen – Ernst-Georg Gäde folgt den Goethes durch Italien
Johann Wolfgang von Goethes „Italienische Reise“ darf man wohl zu den bekanntesten, beliebtesten und am meisten gelesenen Reiseberichten deutscher Sprache zählen, vermutlich dank der Übersetzungen sogar weltweit. Lange nach den Ereignissen hatte er sich die Zeit genommen, sie literarisch zu überformen. Weniger bekannt ist dagegen, dass bereits sein Vater, Johann Caspar Goethe, und nach ihm der Sohn (beziehungsweise Enkel), August von Goethe, ebenfalls in Italien unterwegs waren und darüber ausführliche Schilderungen hinterlassen haben. Der Senior, Johann Caspar Goethe, war ein außergewöhnlich interessierter und gebildeter Mensch, immerhin verfasste er seine Darstellung ein Vierteljahrhundert nach der zweijährigen Reise in italienischer Sprache.
Was liegt also näher, mag sich da Ernst-Georg Gäde gedacht haben, als diese drei Reiseschilderungen einmal miteinander zu vergleichen? Er hat Germanistik und Philosophie studiert und war bis zu seinem Ruhestand in der Erwachsenenbildung und als Organisationsberater der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau tätig. Das Ergebnis liegt jetzt vor in dem hübsch mit Abbildungen historischer Darstellungen und Karten der drei unterschiedlichen Reiserouten illustrierten Band: „Mit der Kutsche durch Italien. Auf den Spuren der drei Goethes 1740–1786/88–1830“ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt auf 202 Seiten.
Nicht wissenschaftlich, sondern mit einem „Dialog im Himmel“ versucht Gäde sich seinem dreifachen Gegenstand „Anstelle eines Vorworts“ (S. 9–12) zu nähern. Dazu lässt er seine Leser an einem „regelmäßig in der himmlischen Kneipe ‚Zum Frankfurter Bub‘“ stattfindenden Treffen der Goetheschen Dreieinigkeit teilnehmen: „Diesmal geht es beim Thema ‚Italien‘ doch recht hoch her“, erfährt man sicherheitshalber als Erklärung vorab. (S. 9) Eine kurze Einführung informiert über „Reisen im 18. und frühen 19. Jahrhundert (S. 13–16), gefolgt von „Italien in drei Akten“: kurzen Charakterisierungen der drei Protagonisten und ihrer Reisen: „Auftakt: Johann Caspar Goethe (1710–1782)“, „Höhepunkt: Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)“ und „Finale: August von Goethe (1789–1830)“ (S. 17–28). Dem folgen die auf Landkarten skizzierten verschiedenen Routen des goetheschen Triumvirats (S. 29–36).
Deutlich wird, dass diese drei Reisen und ihre überlieferten Berichte nicht nur der zeitliche Abstand und die jeweiligen Wege unterscheiden. Zutiefst verschieden sind auch die Charaktere der Reisenden und ihre mentale Verfassung. Natürlich gab es Überschneidungen. Gemeinsam war ihnen das Anliegen einer Bildungsreise, Fluchtmotive kamen bei zwei Reisenden hinzu. Vor allem aber Anlass und Funktion ihrer Darstellungen lassen sich kaum vergleichen. Johann Caspar formuliert fiktive Briefe für Verwandte und Freunde, hat seine Texte für einen privaten Kreis verfasst. Johann Wolfgang benutzt scheinbar private Schreiben an Frau von Stein, die sie ihm für die Veröffentlichung bearbeiten soll, hat also von Beginn an deren Publikation im Sinn. Und August schließlich berichtet in rührend anhänglicher Weise dem Vater, von dem er sich doch insgeheim lösen will.
Eigentlich handelt es sich also um drei höchst „inkommensurable“ literarische Zeugnisse, jedes auf seine Weise bedeutend und interessant, wie auch ihre Autoren – allein, als einzige verbindende Klammer verbleibt Italien, das sich von 1740 bis 1830 nicht unwesentlich verändert hat. Während der Arbeit hat Ernst-Georg Gäde offenbar dieses Problem bemerkt und deshalb unabhängig von den verschiedenen Reiserouten die Ziele und Stationen – wie ein Kartenspiel – neu gemischt. Er listet Orte auf, sieht nach, welcher der drei Goethes wo war und wie sie sich geäußert haben, ergänzt die Darstellungen gegebenenfalls um aktuelle Informationen und sieht seine Aufgabe vor allem darin, die Angaben zu bewerten und mitunter zu korrigieren.
So ist eine Art Kompendium dreier Reiseberichte entstanden, jeweils unterbrochen wie Hörfunkfeatures durch Anmoderationen des Autors oder vielleicht besser: des Herausgebers. Ernst-Georg Gäde listet also auf, welche Sehenswürdigkeiten welcher Goethe wo übersehen hat, oder lobt die richtige Wahl besuchter Lokalitäten, rügt fehlerhafte Erinnerungen – etwa, wenn Johann Caspar die Namen von Kirchen verwechselt, was angesichts des üppigen Angebots katholischer Halbgötter und Heiliger ja naheliegt, oder, falls er Details wie die Anzahl von Brückenbogen oder anderer baulicher Kleinigkeiten nicht präzise erinnert. Deshalb könnte man Ernst-Georg Gädes Leistung als ein um rund zwei Jahrhunderte verspätetes Lektorat oder besser: Korrektorat bezeichnen.
Eher ermüdend und nur bedingt verlockend klingt das. Damit würde man Ernst-Georg Gäde aber nicht gerecht. Denn nicht selten sind seine Kommentare von unfreiwilliger Komik. August erreicht den Gardasee: „Seine Notizen sind nur hingehauen, Hektik spricht aus ihnen. […] Bei diesem gehetzten Stil fragt man sich: ‚Was hat er eigentlich gesehen?‘“ (S. 47–48) Oder: „August hat Recht, wenn er eine Stilmischung konstatiert, allerdings ist es durchaus möglich, die verschiedenen Stilrichtungen zu beschreiben.“ (S. 53) In Venedig: „Alle drei sind fasziniert von dieser Stadt, der Serenissima. Am besten formuliert das – wen wundert es – der mittlere Goethe.“ (S. 67) Und: „In seiner Beschreibung der Kirchen, die Johann Caspar besichtigt, ist er meist nicht sonderlich lebendig. Ganz anders ist es aber, wenn der damals noch unverheiratete Mann […] sich mit der weithin gerühmten Schönheit der Mailänderinnen beschäftigt.“ (S. 56)
Immer wieder, man ist versucht, von einem ‚Leitmotiv‘ zu sprechen, fühlt Ernst-Georg Gäde sich bemüßigt, Johann Caspar Goethe posthum zur Ordnung zu rufen oder quasi zu entschuldigen, bringt dieser den recht eigenwilligen katholischen Wunderglauben und Reliquienkult zur Sprache: „Seine vom Rationalismus geprägte skeptische Haltung gegenüber dem Katholizismus äußert sich hier recht moderat, nahezu zurückhaltend.“ (S. 62) Oder: „eine leichte aufklärerische Arroganz ist nicht zu überhören.“ (S. 74) Und: „Da zieht er als aufgeklärter Zeitgenosse frisch vom Leder.“ (S. 113) Oder: „In sarkastisch, aufklärerisch-überheblicher Manier kommentiert er.“ Anstoß hatte Ernst-Georg Gäde in diesem Fall konkret daran genommen, dass Johann Caspar Goethe mit Witz und Fantasie ökonomische und ethische Aspekte des Geschäfts mit Reliquien kritisiert hatte: „Sie täuschen das einfältige Volk in aller Absicht und würden es allen Zigeunerunsinn glauben machen: seien es nun Federn, die aus den Flügeln des Erzengels Gabriel gefallen sind, als er Maria die Verkündigung überbrachte, oder Josephs Seele, die in eine Flasche gesperrt ist.“ (S. 118) Fassungslos macht Johann Caspar Goethe auch die Legende, das Elternhaus Mariens sei „von den Engeln“ aus Galiläa quasi auf dem Luftweg nach Istrien in Italien gebracht worden, er urteilt knapp und begründet: „Dabei handelt es sich ganz einfach um eine Täuschung und einen Betrug durch Bonifaz VIII.“ (S. 125) Urteile dieser Art mag Ernst-Georg Gäde nicht: „eine gute Portion Überheblichkeit“ (S. 128) Oder: „da katholisch, bekommt er die übliche ‚Breitseite‘ ab.“ (S. 155). Lang noch könnte man die Liste fortsetzen, es lohnt sich aber wirklich nicht.
Besonders originell wird die Sache, wenn Ernst-Georg Gäde versucht, als Psychologe zu argumentieren, und darüber spekuliert, ob man Johann Caspar Goethe als Getriebenen verstehen könne, weil der sich angesichts der katholischen Ideologie unterlegen fühle: „Vielleicht muss sich Johann Caspar immer wieder so vehement – an anderen Stellen richtiggehend verletzend – gegen den Katholizismus zur Wehr setzen, weil dieser immer auch etwas Faszinierendes und Verführerisches hat.“ (S. 143) Das hätte die Heilige Inquisition nicht besser formulieren können.
Ernst-Georg Gäde hat eine bemerkenswerte Fleißarbeit geleistet, die Reiseberichte der Familie Goethe zu sichten, zu zerpflücken, anders als in den ursprünglichen Darstellungen neu zu sortieren und gewissenhaft zu zensieren. Auf jeden Fall bleibt es sein Verdienst, nachdrücklich dokumentiert zu haben, dass Johann Caspar Goethe keinesfalls der etwas pedantische Privatier war, als der er häufig dargestellt wird. Offenbar war er – ganz im Gegenteil! – ein allseits gebildeter und kritikfähiger Geist, moderner und intellektuell aufgeschlossener jedenfalls als manch einer unserer heutigen Zeitgenossen.
Gäde, Ernst-Georg
Mit der Kutsche durch Italien. Auf den Spuren der drei Goethes 1740–1786/88–1830
Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2020
202 Seiten
ISBN: 978 3 534 40438 4
Preis: 32,00 €, für Mitglieder: 25,60 €
Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 2/2021.