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Kaleidoskop in Sachen „Werther“– ein Überblick über das Jahr 1774
Kurz nur nach dem „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand“ erschien 1774 zunächst wieder anonym Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ und löste in Europa einen beispiellosen Skandal aus. „Groß, ja ungeheuer“ sei die Wirkung gewesen, konstatierte der Autor in „Dichtung und Wahrheit“, weil das „Büchlein“ damals „genau in die rechte Zeit traf“ (S. 6). Goethe sprach in der feudalen Gesellschaft verbreitete Probleme an: die ungerechte Klassengesellschaft der Fürsten „von Gottes Gnaden“ und die Moral der Kirche, Freitode ohne jedes Mitleid zu verdammen. Unerhört war damals: Der Autor schilderte einen Selbstmörder mit Empathie und ließ Sympathie mit dem unglücklichen Menschen erkennen.
Zwar gab es bereits Briefromane und Erzählungen über unerwiderte Lieben, aber keine, die so eindrucksvoll geschildert und so elegant formuliert waren. Goethe zog alle Register seiner ästhetischen und rhetorischen Möglichkeiten und das fasziniert bis heute. Auch Jugendliche. Vor einigen Jahren brachte das Aachener Grenzlandtheater den Roman auf die Bühne und versetzte Schüler in helle Aufregung vor Begeisterung.
Diesen 250 Jahre weit entrückten zeitlichen und geistesgeschichtlichen Rahmen Nachgeborenen näher zu bringen, hat sich Johannes Saltzwedel vorgenommen mit seiner Dokumentation „Werthers Welt. Das Jahr 1774 in Bildern, Büchern und Geschichten.“ Chronologisch listet er auf, was damals geschah und publiziert wurde – er bietet ein ansehnliches Panorama von immerhin 312 Seiten. Der zu Klampen Verlag hat auch eine passende Werther-gerechte Farbgebung für den Umschlag gefunden: gelb und blau.
In seiner „Vorbemerkung“ erläutert Johannes Saltzwedel den umfassenden Anspruch seiner Übersicht. Ein „Erfahrungsganzes“ solle hier gezeigt werden „bis in scheinbar provinzielle, manchmal auch entlegene Regionen“ (S. 7). Den 12 Monaten des Jahres entsprechen die 12 Kapitel, jeweils unterteilt in einen Abschnitt „Chronik“ und „Dokumente“. Eingerahmt wird dieser zentrale Teil von einer „Vorbemerkung“ (S. 7) und „Einleitung“ (S. 9–23) sowie einem kurzen Abschnitt „Hinweise“ (S. 284) und dem „Namensregister“ (S. 285–311). Zahlreiche Abbildungen, auch in Farbe, lockern den Text auf.
Vermutlich führte der Ehrgeiz, unbedingt für jeden Tag des Jahres Fakten auftreiben zu wollen, dazu, allerlei Dinge zu erwähnen, die weder mit „Werther“ etwas zu tun haben noch sonst irgendwie relevant sind. Angesichts der subjektiven Auswahl zahlreicher Daten der Chronik konnte es wohl nicht ausbleiben, dass welthistorische Ereignisse neben recht banalen Hinweisen stehen. Leider wird ihnen nicht immer eine angemessene Erläuterung zuteil oder ihre Aufnahme begründet. So erfahren wir, dass ein „Schoßhündchen Ton-ton“ seiner Herrin so lästig wurde, dass sie es abgab (am 19. Januar, S. 30). Und bald darauf, dass Gotthold Ephraim Lessing seinen Arbeitgeber und Herzog um einen Vorschuss bitten musste (am 23. Januar, S. 31). Oder: Allein die Tatsache, dass Merck an jenem Tag von Frankfurt zurück nach Darmstadt reist, hilft dem Leser nur bedingt, die Zeitgeschichte besser zu verstehen.
Anekdotisches findet sich neben europäischer Kolonialpolitik: etwa die Tatsache, dass der Generalgouverneur des britischen Ostindien, Warren Hastings, einen jungen Diplomaten damit beauftragt, Handelswege nach China zu sondieren, ohne Erfolg übrigens (am 14. Mai, S. 110). Und Wieland habe süffisant bemerkt, es sei keine der „unangenehmsten Folgen“ des Weimarer Schlossbrandes, „dass wir dadurch unser Theater verloren haben“ (am 19. Mai, S. 111).
Ergiebiger lesen sich die Angaben über zahlreiche „Dokumente“, die den chronikalischen Teilen folgen. Meist handelt es sich um Autografen oder bibliophile Raritäten aus dem Besitz des Herausgebers, jeweils mit Sammlerstolz umfangreich und pointiert erläutert. In diesen Bereichen des Bandes lassen sich interessante Entdeckungen machen. So über die „Piraterie unter Poeten“: einen Musenalmanach, der im Wortsinn „abgekupfert“ wurde, „zum Teil aus entwendeten Druckfahnen“ (S. 40). Goethes „Goetz“ (S. 54–55) ist ebenso vertreten wie seine „Farce“ – die er nicht selbst zum Druck gab – „Götter Helden und Wieland“ (S. 74–75).
Im November-Kapitel präsentiert der Herausgeber einen handschriftlichen Brief Lavaters (S. 248–249), eine Gebete-Sammlung „tauglich für jede Rocktasche“ unter dem Titel: „Frömmigkeit griffbereit“ (S. 250–251), eine Einleitung in die Forstwissenschaft „Berliner Wälderkunde“ (S. 252–253), ein Grammatik-Lehrbuch „Newton und Euler in Universalschrift“ (S. 254–255) und man erfährt sogar, wer unter anderem das Werk bestellte. Es folgen noch eine medizinische Studie „Der Kliniker und das Böse“ (S. 256–257) und J. M. R. Lenzens anonym erschienene „Anmerkungen übers Theater“ unter dem Titel „Angriff auf alle Charaktermasken“ (S. 258–259). Für Liebhaber bibliophiler Schätze öffnet sich eine reichhaltige Fundgrube.
Es ist das Verdienst dieses Bandes, der gewiss nicht geringen Menge von Büchern zum ersten europäischen Bestseller und Goethes Eintritt in die Weltliteratur ein weiteres hinzugefügt zu haben. Man blättert es durch, erfreut sich an den Abbildungen und entdeckt eine Menge Informationen über das Jahr von „Werthers“ erster Veröffentlichung. In ihrer bunten Vielfalt erinnert die Collage ein wenig an ein Kaleidoskop: ein farbenprächtiger Reigen, wie der Untertitel verspricht „in Bildern, Büchern und Geschichten.“ Ein wenig fühlt man sich an den Optimismus von Goethes Direktor aus dem „Vorspiel auf dem Theater“ erinnert: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; / Und jeder geht zufrieden aus dem Haus. / Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken! / Solch ein Ragout, es muß Euch glücken; / Leicht ist es vorgelegt, so leicht als ausgedacht.“
Johannes Saltzwedel
Werthers Welt. Das Jahr 1774 in Bildern, Büchern und Geschichten
Springe 2023
321 Seiten
ISBN 978-3-86674-996-2
Preis: 38,00 €