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Hat er oder hat er nicht? Heinz Staudinger schreibt über den erfolglosen (Schürzen-)Jäger Goethe
Es dreht sich einmal wieder alles um das eine. Oder um es mit den Worten von Heinz Staudinger zu sagen, der sich in seinem Buch „Goethe auf dem Strohsack. Die liederlichen Jahre in Weimar“ dem ersten Weimarer Jahrzehnt von Goethe widmet:
In literarischer Hinsicht sollte man dieses Jahrzehnt nicht ganz verloren geben: Goethe hat die Briefe an Frau von Stein geschrieben, sie zählen zum Besten aus seiner Feder und würden wohl manches dichterische Werk aufwiegen, das er stattdessen hätte verfassen können. Aus diesen Briefen ergibt sich allerdings die Frage aller Fragen, die bis heute nicht schlüssig beantwortet werden konnte: Hat er oder hat er nicht? (S. 255f.)
Und gerade weil Staudinger das so sehr interessiert, liest er Goethes Briefe gar nicht auf ihre literarische Qualität hin, sondern hauptsächlich auf Formulierungen, die bestätigen könnten, dass ‚er hat‘. Zum Beispiel im August 1776, als Goethe mit dem Herzog in Ilmenau und Umgebung ist und Frau von Stein auf der Durchreise zu Besuch kommt. Das liest sich so:
Den Hermannstein will er ihr zeigen, den hohen Felsen am Westhang des Kickelhahns. Unter dem Felsen befindet sich eine Höhle, die er schon Wochen vorher erkundet hat. Er führt sie in die Höhle. Was hat er sich erhofft? Er verschweigt es, nur soviel: „… daß sie mit in meiner Höhle war, daß ich ihre Hand hielt, indess sie sich bückte und ein Zeichen in den Staub schrieb!!!“
Gegen Mittag fahren sie zurück. Kurz und knapp fasst Goethe den Nachmittag zusammen: „Nach Unterpörlitz zu Tische. Zeichnen, Tanz, Gänsehazze.“ Mit der Gänsehatz ist wohl des Herzogs Hund gemeint, der Corton, der die Gänse durch die Dorfstraßen hetzte.
„Einen ganzen Tag ist mein Aug nicht aus dem ihrigen kommen, und mein gnomisch verschlossenes Herz ist aufgetaut“, schreibt Goethe an einen Freund. Wirklich? Warum hat er dann die knappe Zeit mit Zeichnen vertrödelt? Am übernächsten Tag nimmt er Hammer und Meißel und schlägt eine Inschrift in den Felsen am Hermannstein, eine Inschrift, aus einem einzigen Buchstaben bestehend, aus dem Buchstaben ‚S‘. Der spöttische Einsiedel denkt sich seinen Teil. „Dominus Parafimosis“, diesen Spitznamen haben ihm die Gesellen angehängt, wegen seiner verengten Vorhaut, auch spanischer Kragen genannt.
Goethe hat in Ilmenau viel Zeit mit ihm [Einsiedel] verbracht, ist mit ihm spazieren gegangen, nach Stützerbach geritten, hat mit ihm zu Abend gegessen. Vor allem hat er sich viel mit ihm unterhalten. „Nachts mit Einsiedel eine gute Stunde“, steht im Tagebuch. Hat er ihm zu viel erzählt? Hat er ihn womöglich selbst auf den Gedanken an den Trojaner Aeneas gebracht, jenen Sagenhelden des klassischen Altertums, damals jedem Gebildeten geläufig, der zu Schiff aus dem brennenden Troja flüchtet, in Karthago landet, mit der Königin Dido am Gestade spazieren geht und sich mit ihr in eine Höhle zurückzieht. Aeneas ist in der Höhle zum Zuge gekommen. Und Goethe? (S. 93f.)
In einer Darstellung, in der es möglich ist, einen Menschen über seine Vorhautverengung zu charakterisieren, kann es keine Rolle spielen, inwiefern eine Frau auch eigene Gedanken dazu haben kann, ob sie ‚zum Zuge‘ kommen möchte oder nicht. Darüberhinaus wird die Suggestivfrage zum Schluss durch den Text selbst entkräftet: Wenn angezweifelt wird, dass Charlotte von Stein und Goethe sich den ganzen Tag lang anschauten, wie Goethe an Herder schreibt, und stattdessen festgestellt, dass Goethe seine Zeit mit Zeichnen ‚vertrödelt‘, statt an Frau von Stein herumzubaggern, scheint die Schlussfrage bereits beantwortet. Zumal Staudinger nicht deutlich macht, dass Goethes Formulierung von dem glückseligen Händchenhalten in der Höhle aus einem Brief gerade an Charlotte von Stein stammt. Sollten Frau von Stein und Goethe in einer Höhle Sex gehabt haben, wäre es doch arg verwunderlich, wenn sie sich darüber brieflich in einem Code des Händchenhaltens und In-den-Staub-Schreibens verständigen würden, zumal Goethe ja anscheinend keine Skrupel hat, einen Mann wie Einsiedel mit unverblümten Derbheiten anzureden.
Es mag jede und jeder selbst entscheiden, ob sie oder er ebenfalls als ‚Frage aller Fragen‘ betrachtet, was Staudinger dafür hält. Aber man kann ihm darin folgen, dass es eine Frage ohne Antwort bleiben muss, wobei die Indizien unbeschadet aller Suggestivfragen recht eindeutig sind. Das weiß auch Staudinger, weswegen er sich darauf verlegt, die Zeit Goethes von seiner Ankunft in Weimar im November 1775 bis zur Abreise nach Italien im September 1786 detail- und anekdotenreich zu schildern. Das liest sich flüssig und unterhaltsam. Dass Goethe seinen Weg vom Legationsrat über den Geheimrat zum Präsidenten – so die Kapitelgliederung des Buchs – als skrupelloser Karrierist zurückgelegt habe, sieht die Forschung anders. Aber Staudingers Anliegen ist es gerade, das etablierte Goethe-Bild zu widerlegen. Das kann die Frage nach sich ziehen, wen das Buch eigentlich erreichen soll. Wer Goethe mag, muss sich an den bilderstürmenden Tonfall gewöhnen. Wer Goethe nicht leiden kann, hat gut 270 Seiten lang Zeit, sich seine Ansicht bestätigen zu lassen.
In beiden Fällen lässt sich allerdings so einiges lernen, nämlich über das Jagen. Staudinger war – so steht es auf dem Buchumschlag – „während seines Berufslebens […] bayerischer Forstmann“. Kenntnisreich und mit Akribie rekonstruiert er die Struktur und Organisation der damaligen Jagdreviere, die Jagdleidenschaft des Herzogs, seine vielfältigen Jagdausflüge und Goethes Beteiligung an den Jagden. Anscheinend hat Goethe erfolgreich einen Hirsch geschossen, scheiterte aber blutig bei einer Sauhatz, als ihm das Messer – von Jägern euphemistisch „Saufeder“ genannt – abbrach. Insgesamt war Goethe wohl ein lausiger Jäger, zumal er sich kaum für die Jagd begeistern konnte. Das alles lässt sich so ausführlich wie kurzweilig und vor allem erhellend bei Staudinger nachlesen. Seine fundierten Kenntnisse im Jagd- und Forstwesen nutzt Staudinger sogar für eine Neuinterpretation von Goethes umfangreichem Gedicht „Ilmenau“, „jenen berühmten, unsterblichen Versen, die wie viele seiner großen Gedichte einer schlüssigen Interpretation bis heute widerstanden haben“ (S. 201). Sehr schlüssig fügt sich das Gedicht in Staudingers Grundanliegen, Goethe als skrupellosen Karrieristen zu entlarven. Diese Deutung geht so:
Abseits, in einer Hütte, sieht er [Goethe als die Sprechinstanz des Gedichts] den Herzog liegen. Warum schläft der, während die Freunde zechen? Schläft er etwa seinen Rausch aus? Vor der Hütte sitzt eine Gestalt, die den Schlaf des Herzogs bewacht. Als diese Figur sieht Goethe sich selbst. Für die Bewachung des schlafenden Herzogs wäre allerdings der Oberforstmeister Wedel zuständig gewesen. Denn unter deutschen Jägern gilt bis auf den heutigen Tag die stillschweigende Übereinkunft, dass für die Sicherheit des Jagdgastes der Jagdführer die Verantwortung trägt. Der Jagdführer – und kein anderer!
Aber den getreuen Wedel hat der Dichter übergangen, ebenso wie des Herzogs unvermeidlichen schwarzen Hund, den Sultan oder den Corton, die niemals von seiner Seite wichen. Goethe war als Wachtposten überflüssig. Er hat sich aufgedrängt, wieder einmal. Ungewollt verrät er seine Unart, niemanden zum Herzog vorzulassen, selbst dessen engste Freunde nicht. (S. 201f.)
So biographielüstern muss man einen literarischen Text erst einmal lesen. Aber unter einer solchen Perspektive wird immerhin klar, warum Staudinger die Briefe an Frau von Stein literarisch höher schätzt als Goethes Gedichte: Denn in den Briefen steht zwar leider nicht eindeutig, ob ‚er hat‘, aber wenigstens auch kein Unsinn über das Jagdwesen.
Heinz Staudinger
Goethe auf dem Strohsack. Die liederlichen Jahre in Weimar
Hanau 2023
273 Seiten
ISBN 978-3-89846-894-7
Preis: 24,00 €