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„Hat er oder hat er nicht?“ – Eine Münchner Tagung über Goethe, Charlotte von Stein und Anna Amalia
Am 2. Februar 2019 traf sich in München eine Reihe von Germanisten und Vertretern anderer Wissenschaften, um gemeinsam eine Frage zu erörtern, die einige Goethe-Forscher seit langem umtreibt, längst nicht geklärt ist und vermutlich nie wirklich plausibel beantwortet werden kann. Der Literaturwissenschaftler Wilhelm Solms und der Psychoanalytiker Hubert Speidel haben jetzt unter dem Titel: „Goethe, Charlotte von Stein und Anna Amalia in neuem Licht“ die vier Vorträge und anschließenden Diskussionen in einem Band dokumentiert. Neben ihren eigenen Referaten: Wilhelm Solms: „Die ‚Einzige‘ in Goethes Briefen und Gedichten“ (S. 37 – 58) und Hubert Speidel: „Poetisches Liebesobjekt und reale Liebesbeziehung“ (S. 59 – 76), die hier abgedruckt sind, konnten die Organisatoren und Herausgeber noch Jochen Golz gewinnen: „Der Liebesdialog in Goethes Gedichten …“ (S. 13 – 36) und Dan Farelly, der über „Zeugnisse für Goethes Doppelbeziehung zu Charlotte von Stein und Herzoginmutter Anna Amalia …“ (S. 77 – 90) sprach. Es ging um die tiefe Zuneigung Goethes zu den beiden Frauen sowie um deren Gefühle für Goethe, und um die Frage, wie eng diese Verhältnisse möglicherweise waren. Oder, wie Rolf Selbmann in der anschließenden Diskussion salopp und knapp fragte: „Geht es für Sie also um Geschlechtsverkehr, ja oder nein?“ (S. 115)
Natürlich lässt sich diese Frage nicht eindeutig beantworten. In seinem einleitenden Vortrag weist Jochen Golz darauf hin, dass Liebe für Goethe „über alles Individuelle hinaus“ sich „als ein Weltprinzip“ erwiesen habe, dass er mit Spinoza „in der Natur die wirkende Kraft einer All-Liebe, die alles natürliche Geschehen antreibt“ (S. 17) gesehen habe. Golz weitet die Perspektive, indem er andere Frauengestalten mit einbezieht und die ihnen mehr oder weniger gewidmeten Dichtungen. „Ob er, wie die Forschung gemutmaßt hat, Minna Herzlieb, Silvie von Ziegesar oder Bettina Brentano zum Gegenstand seiner Liebesfeier erhebt, ist letztlich nahezu belanglos, wenngleich er natürlich ein reales Gegenüber als Impulssender braucht, um in der strengen Form des Sonetts über ein so wandelbares Phänomen wie die Liebe sprechen zu können.“ (S. 31). Und angesichts des Gedichts „Das Tagebuch“ stellt Golz pointiert fest: „Müßig ist die Frage, ob ein unmittelbares Erleben des Autors zugrunde liegt.“ (S. 32) Wichtig ist ihm vor allem, sich bei Interpretationen an solide Fakten zu halten und auf Spekulationen zu verzichten. Und Golz warnt: „Aufs Allgemeine gesehen bedeutet es eine Einengung des Rezeptionsraums, wenn man sich allzu sehr auf die Frage einlässt, ob dem poetischen Text ein biographisches Faktum zugrunde liegt.“ (S. 35) Bezogen auf den lyrischen Dialog von Hatem und Suleika in den „Divan“-Gedichten gelte: „Eine Identität von Sprecher-Ich und Dichter-Ich erweist sich als Fiktion.“ (S. 36) Jochen Golz sieht darin einen besonderen Reiz, dass Goethes riesiges Werk Interpretatoren immer wieder neue Möglichkeiten eröffne: „Generell kann jede Zeit ihren neuen Zugang zu Goethe finden, darin liegt ja gerade seine Lebendigkeit.“ (S. 94)
Zu Beginn muss Wilhelm Solms einräumen: „Eindeutige Zeugnisse über eine Liebesbeziehung zwischen Goethe und der Herzoginmutter Anna Amalia sind nicht überliefert“ (S. 36), um diesen Befund sogleich wieder zu relativieren: „Aber es gibt viele Indizien“ (S. 36). Diesen Indizien mag man Glauben schenken oder nicht. Dass sie nicht jedem unbedingt einleuchten, weiß Solms: „‚Wollte‘, ‚dürfte‘, ‚könnte‘: mit solchen Vermutungen kann ich wohl kaum jemand überzeugen.“ (S. 48) Auch Solms verweist auf andere weibliche Wesen an Goethes Lebensweg, um zu zeigen, dass er „schon vor Weimar und auch nach der Italienreise die von ihm geliebten Frauen idealisiert und ihnen manchmal auch Züge anderer Frauen beigemischt“ habe. (S. 48) Dadurch entstehen literarische Figuren, in denen reale Vorbilder zu erkennen sein können, ohne dass deren Identifikation immer eindeutig sichtbar wäre. „Die Gräfin in ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, die Titelfigur ‚Iphigenie‘, die Prinzessin Leonore in ‚Torquato Tasso‘ und wahrscheinlich noch andere Figuren tragen Züge von Anna Amalia, sind aber nicht mit ihr identisch. So bleibt vieles von dem, was Goethe in seinem ersten Weimarer Jahrzehnt erlebt und damals oder später verarbeitet hat, noch immer sein Geheimnis.“ (S. 57 – 58)
Auch die sehr detaillierten und kenntnisreichen Ausführungen von Hubert Speidel, der Aspekte der Psychoanalyse einbezieht, und Dan Farrelly, der seinerseits weitere Dokumente ins Spiel bringt, können letzten Endes die genauen Dimensionen des Verhältnisses von Goethe, Charlotte von Stein und Anna Amalia nicht wirklich beleuchten oder – wie der Buchtitel verspricht – „in neuem Licht“ erscheinen lassen. Letztlich bleibt es eine Glaubensfrage, inwieweit man sich auf solide Fakten beschränkt oder von Indizien und Spekulationen beeindrucken lässt.Überzeugt ist der Verlag: Die Diskussion der Beiträge zeige, wie stark dieses Thema noch immer die Gemüter errege, wirbt er auf der Rückseite. Letztlich haftet diesen Mutmaßungen der Reiz der Schlüssellochperspektive an, Sex sells, die Spekulationen über Anna Amalia und Goethe erinnern an fantasiereiche Berichte der Yellow Press über heutige Adelshäuser und deren Affären. Legitim ist das, wenn auch nicht immer sinnvoll. Es geht nicht darum, irgendetwas zu vertuschen. Es gibt keine Denkverbote. Warum auch? Sind doch die zu untersuchenden Betten längst erkaltet. Bei allem Verständnis, dass Begeisterung darüber, mit Sensationen oder vermeintlichen Skandalen aufwarten zu können, mitunter den eigenen kritischen Blick trübt: Hier werden Eckermanns gewiss aufrichtig gemeinte und gewissenhaft rekonstruierte Gesprächs-Erinnerungen zu goldenen Worten Goethes aufgewertet und private Briefe ohne quellenkritische Betrachtung der konkreten Kommunikation und den Blick auf die realen sozialen Verhältnisse der Beteiligten wie amtliche Dokumente präsentiert. Rolf Selbmann wies in der Diskussion auf diese Schwachstelle hin: „Da schreibt einer dem anderen das, von dem er glaubt, das will er hören. Es ist der abgehalfterte ehemalige Chefminister. Die sind Partei, die sind Feinde von Goethe.“ (S. 112) Und: “Ich befürchte, dass auch hier etwas hineininterpretiert wird …“ (S. 110 – 111). Selbmann hat den Kern der Diskussion auf die lakonische Formel gebracht: „Hat er oder hat er nicht?“ (S. 116) Und er fragt nach Erkenntnis-Wert und Relevanz dieser posthumen Untersuchungen über ein vermutetes Sexualleben: „Bringt es was, wenn man’s weiß?“ (S. 116)
Goethe, Charlotte von Stein und Anna Amalia in neuem Licht Herausgegeben von Wilhelm Solms und Hubert Speidel
Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg Gießen 2020
122 Seiten
ISBN: 978-3-936134-69-8
Preis: 12,80 €
Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 2/2020.