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Goethe lässt Googlen – Johannes Wilkes‘ literarischer Krimi „Kommissar Goethe“
Romanciers dürfen ziemlich viel, sich schreibend allerlei Freiheiten erlauben, ihre Protagonisten in unerwartete Szenerien verpflanzen – allein, eines dürfen sie nicht: langweilen. Diesen Rahmen reizt Johannes Wilkes mit seinem Krimi „Kommissar Goethe: Schillers Schädel“ gekonnt bis an die Grenze aus, liefert einen spannend, süffig zu lesenden Kriminal-Roman, in manchen Aspekten verblüffend, nie langweilig. Doch der Reihe nach.
Gleich der Umschlag stimmt ein auf ein amüsantes Verwirrspiel, wenn er den alten Geheimrat standesgemäß gekleidet vor seinem Elternhaus in Frankfurt zeigt. Zu diesem Zeitpunkt bildete es längst nicht mehr Goethes Lebensmittelpunkt. Nie hat er dort Schillers Schädel in Händen gehalten wie auf dieser Zeichnung. Behutsam und mit hintergründigem Humor versetzt Johannes Wilkes seinen Helden in eine Melange aus Weimarer Klassik und Gegenwart. Goethe bevorzugt zwar noch seine Kutsche, ihm stünden aber modernere Fortbewegungsmittel wie Auto, Bahn und Bus zur Verfügung. Ganz selbstverständlich werden E-Mails ausgetauscht, als Redakteurin ihrer Zeitschrift „Chaos“ unternimmt Schwiegertochter Ottilie es für ihn, relevante Fakten am PC per Google zu ermitteln. Ausdrücklich verbittet er sich allerdings, dass Eckermann zur Erleichterung der Arbeit am „Faust“ auf ein Diktiergerät und KI zugreifen möchte.
Die rasant, in 84 knappen Kapiteln schmissig erzählte Handlung spielt sich innerhalb weniger Tage „Anfang Mai 1827“ ab, beginnt an einem Freitag und endet nach gut einer Woche am Samstag darauf. Bei Betrachtung des Schädels seines Freundes macht Goethe eine verstörende Entdeckung: Ein Indiz scheint darauf hinzuweisen, dass Schiller ermordet wurde. Zumindest ist der Geheimrat fest davon überzeugt und macht sich sofort auf die Suche nach dem Täter. Geradezu verpflichtet fühlt er sich, dem Partner diesen letzten Freundschaftsdienst schuldig zu sein. Die sich daraus ergebenden Verwicklungen, die witzig und pointiert beschriebene Recherche erlaubt es Johannes Wilkes, ein detailliertes Panorama der Weimarer Gesellschaft zu zeichnen und unmerklich immense Kenntnisse der feudalen Verhältnisse am Hof Carl Augusts einfließen zu lassen.
Verschiedene Motive zieht Goethe als Hobby-Kommissar in Erwägung: Könnte es sich um private Gründe wie Eifersucht gehandelt haben oder kamen politische Aspekte zum Tragen? Wäre es möglich, dass der aktuelle württembergische Herzog, dessen Vorgänger Schiller einst fluchtartig als Deserteur den Rücken kehrte, um als Dichter frei leben und arbeiten zu können, nun verhindern möchte, dass der „Demetrius“ ebenso viel Staub aufwirbelt wie damals die „Räuber“ und Schiller deshalb ermorden ließ? Verschiedene Anzeichen deuten darauf hin, dass ein kurz vor Schillers Tod im „Elephanten“ logierender Spätzle-Fabrikant aus dem Ländle nicht nur merkantile Interessen verfolgte, sondern im Dienst des württembergischen Hofs als Agent unterwegs war – unwillkürlich kommt einem der Fall des russischen „Tiergarten-Mörders“ in den Sinn.
Es gelingt Johannes Wilkes überzeugend, humor- und liebevoll Goethes Kosmos lebendig werden zu lassen, ohne dabei auf dem schmalen Grat zwischen Helden-Verklärung oder Denkmalssturz ins Straucheln zu geraten. Apropos Denkmal: In der erzählten Zeit des „Literarischen Krimi“, wie Wilkes seinen Roman verstanden haben will, steht Ernst Rietschels berühmtes Doppelstandbild erst zur Hälfte auf dem Theaterplatz und Goethe sinniert angesichts des halbleeren Sockels darüber, dass er ein wenig größer dargestellt werden müsse, um Schiller in Bronze „auf Augenhöhe“ begegnen zu können.
Ergänzt wird der Roman durch ein paar sachliche Erläuterungen, in denen Johannes Wilkes über einzelne Personen und das Doppel-Denkmal informiert. Und über die Identität von Schillers Gebeinen. Natürlich gelingt es Goethe nicht, den vermeintlichen Mord aufklären zu können. Angesichts der Tatsache, dass er nie Schillers authentischen Kopf in Händen hielt, ist dieses Ende von vornherein klar. Aber wie er sich aus der Affäre zu ziehen vermag, nicht zuletzt mehrfach auch unterstützt von seinen beiden Enkeln – Walther und Wolfgang treiben mit dem Schädel ihren eigenen Schabernack … –, bildet schon ein Lesevergnügen der besonderen Art. Ebenso zahlreiche Zitate aus Werken von Goethe und Schiller, auch in modifizierter Form als Anspielungen, mit denen Johannes Wilkes seinem Text eine nicht ganz eigene Note spielerischer Art gibt. Letztlich macht er mit diesem durch historische und philologische Informationen nie überfrachteten Roman auch Lust, wieder einmal nach einem der Texte des Meisters selbst zu greifen. Auch das hätte Goethe wohl gefallen.
Johannes Wilkes
Kommissar Goethe. Schillers Schädel
Kassel 2024
215 Seiten
ISBN 978-3-95475-261-4
Preis: 13,00 €