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„Goethe grummelte“ – Ralf Günthers Erzählung „Goethe in Karlsbad“

von Andreas Rumler

Mut beweist und Selbstvertrauen, wer der langen Reihe belletristischer Texte über Goethe einen weiteren hinzufügen will. Denn außer den bekanntesten Spitzenprodukten wie Thomas Manns: „Lotte in Weimar“, Martin Walsers: „Ein liebender Mann“ oder Hanns-Josef Ortheils: „Faustinas Küsse“ muss er sich auch neben der offenbar immer noch inspirierenden Strahlkraft des Dichterfürsten selbst behaupten. Ralf Günther hat jetzt mit seiner Erzählung „Goethe in Karlsbad“ dieses Wagnis unternommen.

Der Text besteht aus drei Teilen (S. 7–71, S. 73–138, S. 139–161), denen ein „Epilog“ (S. 163) und ein „Nachwort“ (S. 165–172) folgen. Ralf Günther fügt als „Auswahl“ eine „Literaturliste“ (S. 173) an und legt Wert darauf, sich genau in den ihm relevanten Quellen, zum Beispiel bei Roberto Zapperi oder Sigrid Damm, informiert zu haben. „Indizien“ habe er verwandt „spärlich – stichhaltig zwar, aber nicht eindeutig.“ (S. 169) Das gab ihm Spielraum, sich zu entfalten: ein von Fantasie getragener literarischer Text, unterfüttert mit Fakten.

In Karlsbad beginnt die Erzählung. Goethe reist an, um ungestört arbeiten und kuren zu können. Bald nach seiner Ankunft erfährt er den neuesten Klatsch: Ein unglücklich verliebtes jungen Paar darf wegen des Standesunterschiedes nicht zueinander finden. Anlässlich eines nächtlichen Spaziergangs überrascht Goethe sie bei einem Selbstmordversuch, es kommt zu einem Handgemenge im Flüsschen Tepla, Goethe entwindet dem jungen Mann die Pistole und nimmt Beide tropfnass mit in sein Quartier.

Nun überschlagen sich die Ereignisse. Die Liebenden gewinnen den Geheimrat als Vermittler, der ihr Glück ermöglichen soll. Goethe erhält aus Weimar ein anonymes Schreiben. Das warnt ihn, dort sei eine junge Frau unterwegs und beschuldige ihn, der Vater ihres Kindes zu sein. Sofort reist Goethe zurück, gemeinsam mit dem verhinderten Selbstmörder namens Henri. Im Haus am Frauenplan trifft Goethe auf seine schwer kranke Frau, versorgt sein „Kind der Liebe“ standesgemäß, indem er mit einer üppigen Rente einen offiziellen Kindsvater gewinnt und findet mit Voigts Hilfe heraus, dass Christiane ihm das anonyme Warnschreiben sandte, erlebt deren Tod, hadert mit August, wird vorstellig mit Henri bei dessen Eltern in Erfurt, um doch noch die Ehe des jungen Paars zu ermöglichen.

Im dritten, kürzesten Teil nehmen die Turbulenzen noch weiter an Fahrt auf: „Goethe konnte der Versuchung, sich in die Pose des Helden zu werfen, nicht widerstehen.“ (S. 139) Henris Eltern beschwören den Dichterfürsten, erneut nach Karlsbad zu reisen, den Sohn „zur Vernunft“ zu bringen und: „Goethes Herz folgte den Worten der Kaufmannsgattin.“ (S. 141) Dort angekommen, trifft er Henri und verspricht Hilfe in Liebesdingen: „Ich habe es Christiane auf dem Sterbebett versprochen. Sie war wie vernarrt in Ihrer beider Geschichte.“ (S. 143) Für einen Maskenball, an dem auch Amalies Eltern teilnehmen, borgt Goethe sich bei seiner Wirtin ein Kostüm: „‘Es ist Charon‘, sagte Goethe düster, ‚der Fährmann des Todes.‘“ (S. 146) Der Clou daran ist eine Maske, das „magische Accessoire“: Zwar hat sie keine Sehschlitze, vermag aber „auf geheimnisvolle Weise … sein Sehfeld zu erweitern.“ (S. 147) Dank dieser übernatürlichen Kräfte gelingt es Goethe, das Happy End zu erzwingen. Mit Goethes Kutsche, seinem Picknickkorb, einer von ihm gestifteten Reisekasse und einem Schutzbrief „Sauvegarde“, denn: „Ich bin Träger des Ordens der Ehrenlegion, mein Name zählt etwas dort“ (S. 161), flüchten sie vor den Eltern nach Frankreich.

Er wolle Goethe nicht „einer lockeren Moral oder des verwerflichen Liebeslebens“ bezichtigen, schreibt Ralf Günther. „Dies ist hier nicht der Ort, das Lied vom Don Juan im Dichtergewand zu singen.“ (S. 169) Dagegen preist er Goethes Modernität: Der habe „den heute beinahe selbstverständlichen Rahmen des Zusammenlebens von Mann und Frau in der modernen, emanzipierten Gesellschaft“ propagiert und: „Goethe war ein Pionier auf diesem Gebiet.“ (S. 172) Gemeint ist Goethes für die damalige Zeit mehr als ungewöhnliches Verhältnis mit Christiane.

Nicht nur im Fall potentieller Geliebter oder Christianes geht Ralf Günther recht lax mit Fakten um, gönnt sich dichterische Freiheiten. Goethe war Jurist, fertigte für den Herzog ein Gutachten an, hat aber kein „Todesurteil unterschrieben.“ (S. 101) Bei der Diligence, wie Goethe sie in „Dichtung und Wahrheit“ erwähnt, handelte es sich um eine damals moderne Schnellpost, nicht um ein Kutschenmodell, deshalb ist es nicht sinnvoll, von Goethes „eigener“ Diligence zu sprechen. (S. 85) Zwar steht in Goethes Sammlungen ein Modell von Stephensons „Rocket“ von 1829, allein, die Erzählung spielt im Sommer 1816, Goethe starb 1832, die erste deutsche Eisenbahn, der „Adler“, verkehrte 1835 – also sollte man ihm nicht in den Mund legen: „Wir fahren dampfbetrieben durchs Land.“ (S. 39) Aber das ist auch schon einem anderen Autor passiert. Hartnäckig hielt sich das von klerikalen Gegnern Goethes gestreute Gerücht, die Lektüre des „Werther“ habe zahlreiche Selbstmorde verursacht. Belegen lässt es sich nicht, dient Ralf Günther aber immer noch als zentrales Motiv seiner Erzählung: „Bei einem Spaziergang entlang der dampfenden Tepla platzt er in den Suizidversuch eines jungen Liebenspaares“ (so der werbliche Text der Rückseite unter der Überschrift „Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt: Goethe als Liebesretter“) und weiter: „Da lässt Goethe sich zu einem Versprechen hinreißen. Kann es ihm gelingen, den Schicksalsfaden zu entwirren und das Paar seinem Glück zuzuführen?“

Ärgerlich ist die unbeholfene, oft unfreiwillig komische Sprache: „Mit knapper Not war die Vereinigung mit Marianne Willemer im Literarischen geblieben.“ (S. 36) Oder: „Sie fanden die Goethe’sche Kammer gemeinsam, und auch das Bett fanden sie gemeinsam. Und am Ende fanden sie im Bett einander – gemeinsam.“ (S. 93) Wie sonst? ist man versucht, zu fragen. Apart liest sich auch, Christiane habe ihn mit „Augenaufschlägen“ dazu gebracht: „als olympischer Schwan mit schweren Flügelschlägen auf ihr Laken zu sinken.“ (S. 122)

Andere Stilblüten: „Mit verhangenem Gemüt erreichte der Geheimrat den Berkaer Posthof.“ (S. 99) „Seine Seele atmete Dunkelheit.“ (S. 119) „Dem König der Worte kamen keine über die Lippen.“ Und, wenige Zeilen später: Er „verbarrikadierte sich im Schloss der glücklichen Erinnerungen.“ (S. 133) „Positive Gefühle in den Untiefen des väterlichen Gemüts.“ (S. 139) Formulierungen dieses Kalibers befremden in einer Goethe thematisierenden Erzählung. Originell ist es, von einem „gedungenen Hauslakaien“ (S. 40) zu sprechen oder der „gedungenen Kammer“. (S. 120) Oder schlicht falsch, die Treppe befindet sich nicht im Freien, sondern innerhalb des Hauses: „Die höfische Freitreppe mit dem wohlgemeinten Salve-Gruß auf dem Boden …“ (S. 121)

Antiquierte Ausdrücke werden mitunter kursiv gesetzt, um deren altertümelnden Charakter auch dem Letzten vor Augen zu führen: „Gebresten“ (u. a. S. 12), „Purgatorium“ (S. 16), „Surtout“ (u. a. S. 21), „Enveloppe“ (S. 112), „Fête aux Masques“ (S. 145). Mitunter menschelt es gewaltig: „Goethe grummelte und rollte sich in seiner Ecke zusammen.“ (S. 71) Und: „Goethe grummelte etwas.“ (S. 87) Interessieren würde, welche Geräusche ihm entwichen wären oder Xenien eingefallen, hätte Goethe diese Erzählung noch zur Kenntnis nehmen dürfen. 

Ralf Günther
Goethe in Karlsbad
Eine Erzählung

Kindler, Hamburg 2022
176 S.
ISBN: 978-3-463-00004-6

Preis:
14,99 € (Kindle E-Book)
18,00 € (gebundene Ausgabe)


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