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Flaneur durch einen geistigen Kosmos – Gerhard R. Kaiser lädt nach „Tiefurt“ ein
Abseits der bekannten und berühmten literarischen Gedenkstätten und Museen im Zentrum Weimars liegt an einem idyllischen Bogen des Flüsschens Ilm ein Kleinod der Goethezeit: Das Schlösschen Tiefurt mit seinem Park. Weit reichen dessen kulturelle Wurzeln in die Geschichte zurück, erinnern an die griechische und römische Antike. Bis heute ist dieses Ensemble ein Ort, an dem man sich literarischer Traditionen vergewissern kann und der in besonderer Weise den speziellen Charme des Weimarer Hofs zur Zeit Goethes, Wielands, Herders und Schillers und auch den für feudale Verhältnisse modernen und liberalen Stil der Herrscherfamilie repräsentiert.
In seinen „Gesprächen mit Goethe“ lässt Eckermann die Nachgeborenen wissen, Goethe habe ihm die Anregung gegeben, die „charakteristische Seite“ (S. 9) Tiefurts zu studieren und darzustellen. Dazu ist es nicht gekommen. Goethe selbst fühlte sich zu befangen, weil „die Einzelheiten sich mir in zu großer Weise aufdrängen“. (S. 9) Natürlich wird Tiefurt in allen einschlägigen Biografien und Reiseführern behandelt. Und seit 2011 liegt unter dem Titel „Es ward als ein Wochenblatt zum Scherze angefangen“ das seinerzeit handschriftlich in wenigen Exemplaren edierte „Journal von Tiefurt“ vor (herausgegeben von Jutta Heinz und Jochen Golz in der Reihe: Schriften der Goethe-Gesellschaft; Bd. 74; siehe auch den Newsletter der Goethe-Gesellschaft in Weimar Nr. 2 vom Oktober 2017, S. 11 – S. 12).
Gerhard R. Kaiser, der nach einer langen wissenschaftlichen Karriere in Tiefurt lebt, hat Goethes Empfehlung aufgegriffen und in den „Schriften der Goethe-Gesellschaft“ eine Reihe von Untersuchungen unter dem Titel „Tiefurt. Literatur und Leben zu Beginn von Weimars großer Zeit“ vorgelegt. Da das kleine Palais im Lauf der Zeit unterschiedlich genutzt und mit dem Park entsprechend (um-) gestaltet wurde, bot es sich an, diese Entwicklung nicht chronologisch zu erzählen, sondern sie unter besonders relevanten Aspekten zu betrachten. Als „Bausteine“ zur „gründlicheren Vergegenwärtigung von Tiefurts Blütezeit“ (S. 10) begreift Kaiser seine Sammlung, einzeln sollten die Aufsätze zu lesen sein, deshalb waren Wiederholungen von Zitaten und einzelnen Überlegungen nicht zu vermeiden.
Vom Pächterhaus zum Palais …
Der Umbau und die Ausgestaltung des ehemaligen Pächterhauses in Tiefurt und des Parks begannen fast zeitgleich mit Goethes Ankunft in Weimar. Im Jahr 1774 hatte Karl Ludwig von Knebel die Aufgabe als Prinzenerzieher des zweitgeborenen Sohnes von Anna Amalia, des Prinzen Constantin, übernommen und am 7. November 1775 traf Goethe dort ein. Da Beide seit ihrer ersten Begegnung in Frankfurt eine herzliche Freundschaft verband, Knebel war einer der wenigen Menschen, mit denen Goethe sich duzte, gingen in die Gestaltung der Anlage auch Ideen Goethes ein. Beide teilten ähnliche Vorstellungen über die Natur, beeinflusst von Rousseau und waren sich auch in der Beurteilung Bonapartes einig: „In Napoleon sahen beide weniger den brutalen Eroberer und Unterdrücker“, sondern „den europäischen Visionär und denjenigen, der dem nachrevolutionären chaotischen Zustand Frankreichs ein Ende bereitet und Frankreich in vieler Hinsicht maßstabsetzend erneuert hatte.“ (S. 47)
Im Kapitel „Karl Ludwig von Knebel. ‚Urfreund‘ Goethes, Schöpfer Tiefurts, homme de lettres“ (S. 11 – 50) schildert Kaiser nicht nur detailliert Knebels Biografie, sondern auch, wie die Gebäude und Anlagen im Ilmbogen umgestaltet wurden, sollten sie doch künftig Mitgliedern der Fürstenfamilie als Wohnsitz dienen – freilich ohne den üblichen Pomp und die steife Etikette der feudalen Repräsentationsbauten. Inmitten der Natur sollte der junge Prinz standesgemäß erzogen werden. Eigens dafür, und natürlich auch zur Selbstversorgung, wurden kleine landwirtschaftliche Nutzflächen nahe der Ilm angelegt. Immerhin hätte Constantin bei einem frühen Tod Carl Augusts als Landesherr amtieren sollen. Kaiser beschränkt sich aber nicht nur darauf, Knebels Tätigkeit in Tiefurt zu zeigen, sondern liefert eine sorgfältig differenzierte Charakterisierung seiner Persönlichkeit, sowie seiner Bedeutung als deutscher Übersetzer unter anderem von Lukrez‘ „De rerum natura“, über lange Jahre blieb seine Übertragung maßgeblich und einflussreich.
Nach dem Auszug Prinz Constantins 1781 übernahm Anna Amalia das kleine Schloss als ihren bevorzugten Sommersitz. Darüber und wie Tiefurt als „Hain“, „Tibur“ oder „Tempe“ literarisch überhöht wurde im Anklang an römische und griechische Vorbilder, berichtet Kaiser in dem Abschnitt „‚Liebes, liebes Tempe‘ Tiefurter Phantasien“ (S. 51–82). Als „Erinnerungsraum“ einer „2000-jährigen, über das Christentum zurückreichenden Geschichte“ (S. 75) bis in die Gegenwart gestaltete Anna Amalia den Park, unterstützt von Goethe, durch den Rückgriff auf Vergil und Horaz und die Errichtung der Denkmäler für Mozart, Herder und Wieland. Einen Höhepunkt bildete im Juli 1782 die Aufführung von Goethes Stück für das Liebhabertheater: „‚Die Fischerin. Ein Singspiel, auf dem natürlichen Schauplatz im Park zu Tiefurt an der Ilm vorgestellt‘“. (S. 83–112.) Ausführlich erörtert Kaiser die Tradition der Freilichttheater an den europäischen Höfen, wie sie nach dem Vorbild von Versailles in Mode kamen, auch als Hecken- oder Ruinentheater. Von diesen Modellen unterschied sich die Szenerie im Ilmbogen. Weitgehend konnten die Akteure die natürlichen Gegebenheiten nutzen. Weder mussten Bäume gepflanzt oder gefällt werden, man brauchte keine Kunstbauten oder neu errichteten Ruinen und: „Sodann ist die Szene an der Ilm der Fischerin und ihrer Geschichte in höchstem Maße angemessen“. (S. 92)
… und Wegmarke der Literatur …
Eine kleine, aber fundierte Literatur- und Rezeptionsgeschichte bietet Kaiser in dem Kapitel „Friedrich II. und die deutsche Literatur ‚De la littérature allemande‘ und das ‚Journal von Tiefurt‘“ (S. 113–154). Mit diesem Pamphlet hatte Friedrich II. überzeugend feudale Borniertheit und literarische Unkenntnis bewiesen. Kaiser: „schon in den Augen der aufgeschlosseneren Zeitgenossen musste Friedrichs Schrift befremden und zu Widerspruch herausfordern.“ (S. 115) Denn er ignorierte die damals bedeutendsten deutschen Autoren – wie Lessing und Wieland oder Winckelmann, Hamann und Lenz – um heute mit gutem Grund vergessene hervorzuheben: Friedrich Rudolph Ludwig von Canitz oder Cornelius von Ayrenhoff. Ein ironisches und mit hintergründigem Witz gespicktes Journal herauszugeben, das mit Friedrichs Themen und Texten ganz offensichtlich brach, aber auch im Rahmen der damaligen Möglichkeiten für einen internationalen Dialog warb, bedeutete eine sehr behutsame Distanzierung von Preußens Übermacht, die freilich nur einem ganz kleinen Kreis den Lesern in Kopien anvertraut wurde.
So privat der Liebhaber- und Künstlerzirkel um Anna Amalia in Tiefurt und dem „Journal“ auch sein mochte, provinziell oder national beschränken ließen die Kunstfreunde sich ihre Perspektiven nicht. Ganz im Gegenteil. Auch wenn der Begriff erst später aufkam, dachte man hier in Dimensionen einer möglichen „Weltliteratur“. Das dokumentiert Kaiser in seinem Kapitel: „‚Il n’y a que le méchant qui soit seul‘ – Ist nur der Böse allein? Das Zerwürfnis Diderot – Rousseau und das ‚Journal von Tiefurt‘“ (S. 155 – 192). Das „Journal“ hatte für seinen recht exklusiven Lesekreis – die Auflage betrug wahrscheinlich nur zwölf Exemplare – kommentierte Übersetzungen von Texten Rousseaus und Diderots veröffentlicht, „die deren europaweit Aufsehen erregendes Zerwürfnis zum Thema hatten.“ (S. 156)
Wurde hier eine in der gebildeten Welt kontrovers diskutierte Sensation in der befreundeten Gruppe erörtert, so belegt der nächste Essay, wie Goethe mit einem Gedicht im „Journal“ ein eher regional relevantes tragisches Ereignis zum Anlass nahm, kunsttheoretische und politische Fragen prinzipiell zu thematisieren: „Nachruf auf einen Theatermeister. Goethes Gedicht ‚Auf Miedings Tod‘ im ‚Journal von Tiefurt‘“ (S. 193–226). „Ein ‚einfacher Handwerker‘ wird in die Tradition der Verewigung durch das dichterische Wort gestellt.“ (S. 208) Am Weimarer Hof wurde sonst nicht gerade auf einen „pietätvollen Umgang mit den Verstorbenen“ Wert gelegt, berichtet Kaiser und zitiert Knebel: „Dies ist wahrer Atheismus, Blasphemie und Irreligiosität.“ (S. 208) Goethe zeigt in seinem Gedicht auch, dass die Übergänge von Kunst zum Kunsthandwerk und vor allem umgekehrt vom Handwerk zur Kunst fließend sind, weil eine perfekte Beherrschung handwerklicher Mittel dem Künstler erst erlaubt, seine Ideen zu verwirklichen.
… über Jahrhunderte …
Als Flaneur von wissenschaftlichem Niveau durch den realen Englischen Garten im Ilmbogen und zugleich durch kulturelle Räume und Zeiten seit der Antike bis zur Gegenwart bewegt Kaiser sich in seinen beiden letzten Kapiteln. Ausführlich erläutert er „Beredte Steine, antiker Form sich nähernd. Die Inschriften im Tiefurter Park“ (S. 227–264) und „Literatur und Leben. Historisch – aktuell“ (S. 265–288). Denn dort sind einige der damals typischen Parkbauten errichtet worden (zum Teil wieder abgeräumt) und Denkmäler, unter anderem für die Weimarer Künstler oder auch Mitglieder der Herzogsfamilie. „In der Vergil-Grotte gedachte man des herausragenden römischen Dichters, dessen ‚Georgica‘ man bis zur Anlage eines Weinbergs und einer Bienenzucht folgte.“ (S. 271) So bietet Kaisers Reihe von Untersuchungen ein doppeltes Vergnügen. Er führt ein in den geistigen Kosmos von Weimars klassischer Zeit und lässt sich als moderner Reiseführer lesen bei einem Parkrundgang. Und so dürfte der Herausgeber und Präsident der Goethe-Gesellschaft Stefan Matuschek richtig liegen mit der Vermutung, man werde „in den nächsten Monaten dort viele Menschen mit diesem Buch in der Hand treffen.“ (S. 8) Denn man darf Kaisers Untersuchungen getrost als Einladung verstehen, ihm nach seinen wissenschaftlichen Annäherungen auch ganz real vor Ort zu folgen.
Gerhard R. Kaiser
Tiefurt
Literatur und Leben zu Beginn von Weimars großer Zeit
Reihe: Schriften der Goethe-Gesellschaft; Bd. 79
Herausgegeben von Stefan Matuschek
Göttingen (Wallstein Verlag) 2020
304 S., 33 Abb., geb., Schutzumschlag, 15,5 x 23 cm
ISBN: 978-3-8353-3659-9
Preis: 25,00 €
Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 2/2020.