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Neue Bücher

Ergiebiges Kompendium in handlicher Form

von Andreas Rumler

Zugegeben: Manchen ehrfurchtsvollen Goethe-Jünger und -Verehrer mag der etwas eigenartige Titel irritieren. Allein, wer andere Bücher von Bertold Heizmann kennt – darunter seine wissenschaftlich fundierten Arbeitsbücher, Lektüreschlüssel und Interpretationen für den Deutschunterricht oder seine Monografie über Kotzebue –, weiß, dass der Germanist und Publizist, Vorsitzende der Ortsvereinigung der Goethe-Gesellschaft in Essen, ein ausgewiesener Literatur-Spezialist ist und sich seinen Gegenständen stets mit großer Hochachtung und philologischer Akribie zu nähern vermag. Auch Dagmar Gaßdorf ist promovierte Philologin und mit mehreren Büchern zu sprachwissenschaftlichen Themen hervorgetreten. Dies nur vorweg.  

Ganz offenbar soll dieser Band mit seiner lockeren Sprache, seinen zahlreichen Illustrationen und seinem gefälligen Layout eine Zielgruppe ansprechen, die Lehrer und andere Akademiker leider immer schwieriger erreichen: Bürger, die sich für Literatur interessieren, aber durch digitale Angebote oft nicht mehr gewohnt sind, längere Texte in Ruhe zu lesen. Man könnte sagen, hier handelt es sich um eine Reihe von PR-Texten in Sachen deutscher Klassik, speziell als Appetizer für Goethe. Und dabei zielt Bertold Heizmann nicht nur auf Jugendliche, sondern auf Leser aller Altersstufen, die sich für Kultur und Literatur interessieren.

Weltweit geschätzt … 

Erstaunlich im Fall Goethe ist ja, dass er zwar bei uns Schullektüre ist, nicht immer zur Begeisterung der Schüler, aber ansonsten in der Bevölkerung wenig gelesen wird. Anders als in Frankreich, Großbritannien, Italien, Russland oder Spanien, deren Klassiker der eigenen Bevölkerung wesentlich bekannter sind. Auch in globalem Maßstab dürfte Goethe vertrauter sein als hierzulande, etwa in China, Indien, Japan, Korea oder auf dem amerikanischen Kontinent. In Straelen erlebten wir einmal, wie eine Gruppe von etwa 50 Übersetzern aus den verschiedensten Ländern uns ihre Übertragungen des Osterspaziergangs vortrugen – mit leuchtenden Augen. An einer deutschen Universität oder Schule könnte man eine so begeisterte Rezitation wohl kaum erleben. Diesem Kulturverlust wollen Dagmar Gaßdorf und Bertold Heizmann offenbar mit ihrem Band entgegensteuern.

Aufgebaut ist der Band in 52 übersichtlichen Lesehäppchen von jeweils 1 – 4 Seiten, zumeist reich bebildert. Durchgehend spielen die beiden Autoren damit, Goethe mit Respekt, aber ohne übertriebene Ehrfurcht zu begegnen. Sie bauen Distanz zum Klassiker ab, holen ihn gewissermaßen vom Denkmalssockel und stellen ihn mit Witz und subtiler Ironie vor, wie schon der Untertitel andeutet: „Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten“. Damit bewegen sie sich auf einem schmalen Grat, von dem sie aber nie in Albernheiten abgleiten. Behutsam nehmen sie moderne Vokabeln auf, ganz im Sinn Goethes, war er ja auch Neuerungen gegenüber aufgeschlossen. So lautet eine Kapitelüberschrift „MeToo und ein dicker Hund“ (S. 38 – 39). Darin geht es um den „Theaterchef in Weimar“ und seine Leistungen sowie um die „jungen, hübschen Schauspielerinnen mit Talent und Ehrgeiz, die sich um seine Gunst bemühen.“ (S. 38) Und natürlich um Goethes Rücktritt von der Theaterleitung, nach dem Auftritt eines dressierten Pudels, durchgesetzt von Caroline Jagemann.  

… hierzulande mancherorts noch kennenzulernen

Das Inhaltsverzeichnis liest sich als überzeugende Kombination aus Chronologie, angereichert mit Hintergrundinformationen und Stichworten, die einzelne Aspekte thematisieren, bevor Elternhaus und Kindheit vorgestellt werden: „Aus dem Hirschgraben“ (S. 10 – 13) erfährt man einiges über „Goethe und seine Zeit“ (S. 6 – 7) sowie „Zahlen und Fakten“ (S. 8 – 9) wie etwa die Tatsache, dass wir seinem Genie 2006 Gedichte verdanken, „darunter auch zahlreiche ‚Gelegenheitsgedichte‘“ (S. 8), oder die Tatsache, dass rund 7000 Mitglieder den Ortsvereinigungen der internationalen Goethe-Gesellschaft in Weimar angehören, die selbst rund 2500 Mitglieder in vielen Ländern der Welt besitzt. Allein in Deutschland gibt es 2215 Goethestraßen und außerdem Goethe-Alleen und -Plätze. Eine aparte und auch mutige Idee ist es, das Vorwort „Zum Geleit“ als Gedicht zu verfassen, datiert „Über allen Wipfeln, im August 2020“ – das den Vergleich mit manchem Gelegenheitsgedicht Goethes nicht zu scheuen braucht (S. 5)

Nur eine Seite benötigen die Autoren, um den späten Arbeitsbund sowie das lange Zeit eher distanzierte Verhältnis von Goethe und Schiller in den verschiedenen Facetten – unter anderem ihrer sozialen Herkunft und literarischen Entwicklung – pointiert und stimmig darzustellen: „Brüder im Geiste“ seien sie, auf dem Denkmal vor dem Weimarer Nationaltheater habe der Bildhauer „Goethes tatsächliche Größe der gefühlten angepasst.“ (S. 25). Ausführlicher stellen sie Goethes Italienreise dar: „Kennst Du das Land …“ (S. 31 – 33). Goethe habe einen „Burnout“ erlebt, lernte dort die Kunst der Antike schätzen und andere deutsche Künstler kennen, etwa die „wie man heute wohl sagen würde, ‚Influencerin‘ Angelika Kauffmann“ (S. 33). Im Kapitel „Die Gretchenfrage“ (S. 35) geht es um Goethes Verhältnis zu den diversen Religionen. “Dem Katholizismus kann er schon wegen dessen starrer Dogmatik nichts abgewinnen: Der Mensch muss sich doch entfalten können! Auf seiner Reise nach Italien wird die Abneigung noch wachsen: Hier die Antike, sinnenfroh, dem Diesseits zugewandt, dort die katholische Religion, sinnenfeindlich auf das Jenseits gerichtet.“ (S. 35)      

Dem weltweiten Echo, das Goethes Werk bis heute findet, widmen die Autoren gleich zwei Kapitel: „Lotte in Weimar? Nein, in Seoul!“ (S. 88 – 89). Denn dort steht, man glaubt es kaum, ein immerhin 555 Meter hoher Wolkenkratzer, zu der Zeit, als dieser Band erschien „das fünfthöchste Gebäude der Welt“ (S. 88) und von seinem Bauherrn „Lotte World Tower“ benannt, weil der seit seiner Jugend von Goethes Roman begeistert war. In der chinesischen Metropole Shanghai befindet sich eine verkleinerte Kopie des bekannten Denkmals aus Weimar. Und in den USA begegnet man gleich mehreren Kopien des von dem Dresdner Bildhauer Ernst Rietschel geschaffenen bronzenen Doppel-Bildnisses mit dem Lorbeerkranz. Auf weitere Denkmäler Goethes trifft man in vielen Städten der Welt in den unterschiedlichsten Ländern. 

Ein Vorzug dieses handlichen, aber recht ergiebigen Kompendiums besteht darin, dass man es wie ein Lexikon benutzen, einzelne Artikel und Stichworte herauspicken kann, über die man sich gerade kundig machen möchte. Leicht liest man sich allerdings dabei fest, weil die interessante Aufmachung mit zahlreichen Illustrationen dazu verleitet, unwillkürlich weiter zu blättern. Bei Veranstaltungen der Ortsvereinigungen kommt häufiger die Frage auf, wie man sich über Werk und Autor kompakt informieren könne, ohne gleich eine der voluminöseren Biografien mit ihrem wissenschaftlichen Apparat durcharbeiten zu müssen. Wem also bewährte Lexika wie etwa das von Gero von Wilpert zu detailliert sein mögen: Mit dieser Übersicht liegt eine gut verdauliche und amüsant geschriebene Darstellung vor, auch ein ideales Weihnachtsgeschenk, nicht nur für Großeltern an die Nachgeborenen …

Dagmar Gaßdorf & Bertold Heizmann
Goethe für Klugscheißer.
Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten. 

Essen, Klartext Verlag 2020 
104 S.
ISBN: 978-3-8375-2315-7 

Preis: 14,95 €

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 5/2020.


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