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Neue Bücher

Ein „Mängelexemplar“ wird präsentiert

von Jochen Golz

Um ein mögliches Missverständnis gleich auszuräumen: Angezeigt wird nicht ein fehlerhafter Gegenstand, sondern – unzulässig verkürzt – der Titel eines Buches, das die Goethe-Gesellschaft Hochrhein ihren Mitgliedern als Geschenk unter den Weihnachtsbaum gelegt hat. Vollständig lautet er: „Goethe, ein Mängelexemplar. Gespräche von Hüben nach Drüben“. Die Autorin Eva Berberich rückt den landläufigen Begriff von Mängelexemplar selbst zurecht. „Außerdem“, so erklärt sie auf S. 150, „als Mängelexemplar, das nicht auf allen Gebieten glänzen kann, ist er mir doch [Goethe natürlich, J.G.] sympathischer. Vollkommenheit kann ganz schön nerven.“ Das kann man so oder so auffassen, unsympathisch ist es nicht. Den Untertitel hat die Autorin, leicht abgewandelt, einem Brief Goethes entnommen.

Noch in anderer Hinsicht spielt die Rede vom Mängelexemplar eine Rolle. Denn Eva Berberich hat ihren „Gesprächen“ einen erzählerischen Rahmen gegeben: Auf einem Friedhof, genauer: am Grab eines Goethe-Philologen, hat sie eine Goethe-Büste mit lädierter Nase, ein Mängelexemplar also, aufgestöbert. Diese Büste, auf dem Bücherbord der Autorin platziert, figuriert im Laufe der Handlung als verlebendigter Dialogpartner von „Drüben“ – mehr als einmal mit „funkelnden Augen“ ausgestattet –, als geduldiger Erklärer oder sarkastischer Kommentator, je nach Gesprächssituation. Zuweilen erklingt seine Stimme auch aus dem Off. Mitredender Gefährte des Autors ist ein ebenfalls jenseitiger Eckermann, der herbeigerufen wird, wenn man ihn braucht – als beflissener Lieferer genauer Zitate, gewissermaßen als Goethes zweites (korrekteres) Ich. Gefährtin der Autorin „Hüben“ ist ihr Kater, dessen tierische Existenz zur Belebung des Geschehens beitragen soll und in dessen Tierseele sich so etwas wie eine Metamorphose ganz in Goethes Sinn ereignet, weil er am Ende beinahe zum poetischen Konkurrenten, auf jeden Fall aber zum Verehrer Goethes mutiert.

Im Kern handelt es sich bei Berberichs Darstellung um eine Verteidigung Goethes gegen die Gebildeten unter seinen Verächtern, um den Theologen Friedrich Schleiermacher zu zitieren. Die Autorin fragt und Goethe antwortet, assistiert von Eckermann. Sie legt Wert auf die Feststellung, dass alle Goethe in den Mund gelegten Äußerungen authentisch seien. Soweit meine Goethe-Kenntnisse reichen, kann ich das bestätigen. Längere Zitate sind im Text kursiviert, kürzere ohne genauere Kennzeichnung geschickt in den laufenden Text montiert. Der Goethe-Kenntnis der Autorin stellt dies ein gutes Zeugnis aus. Überdies weiß sie zur Bekräftigung ihrer Meinungen und Urteile eine ganze Schar prominenter Autorinnen und Autoren aus Vergangenheit und Gegenwart zitierend heraufzubeschwören; deren Äußerungen zu allen möglichen Themen überlässt sie bereitwillig Goethe selbst. Goethe „klaue“ das ihm Gemäße bei den Nachgeborenen, erklärt sie sarkastisch. Eine gewissermaßen umgekehrte Tradition wird gestiftet. Nicht nur Autoren kommen bei Berberich zu Wort. Pu der Bär und selbst Loriots Steinlaus zählen ebenfalls zu ihrem Personal. Das spricht für ihre Belesenheit, für Geschmack und Urteilsvermögen. So kann man selbst den hier auf Goethe bezogenen Zeilen aus Conrad Ferdinand Meyers Versepos „Huttens letzte Tage“ – wer kennt das heute noch – beipflichten: „Ich bin kein ausgeklügelt Buch. / Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch.“ In diesem Sinne versteht Berberich auch das „Mängelexemplar“ Goethe.

Wie läuft nun das Frage-und-Antwort-Spiel ab? Die Autorin – ihre Schwarzwälder Lebenssphäre ins Bild setzend – fragt, die verlebendigte Büste oder die Stimme aus dem Off antworten, und Eckermann fügt das Seine hinzu. Die Autorin wiederum kann das Gesagte bestätigen, korrigieren oder relativieren, auch ihr Kater – Hoffmanns Kater Murr lässt grüßen – mischt sich redend oder nach Katzenart handelnd in das Geschehen ein. Die einzelnen Kapitel haben zum Lesen verführende Überschriften, abgehandelt werden aber ernsthafte Themen: Goethes Liebesbeziehungen, seine Haltung zu Krankheit, Tod und Unsterblichkeit, zur Musik, um nur Einiges herauszugreifen.

Am Ende mündet das Erzählspiel in die Frage nach dem ‚richtigen‘ Leben. Was die Autorin Goethe hier und andernorts antworten lässt, sind teils wörtliche, teils freier referierte Aussagen, sodass aller Widerspruch verstummen kann. Kleine ‚Mäkeleien‘ seien dennoch erlaubt. Die Widmung „In tyrannos“ für Schillers „Räuber“ stammt nicht vom Autor selbst, vielmehr hat sie dessen Unwillen erregt. Und das unendliche Kapitel „Goethe und Franz Schubert“ bedürfte weiterer Kommentierung. Im Goethe-Jahrbuch 2001 hat der renommierte Musikwissenschaftler Anselm Gerhard dargelegt, dass der die Notensendung begleitende Empfehlungsbrief, den Schuberts Freund Spaun Goethe geschrieben hat, dem Komponisten insofern einen Bärendienst erwies, als er Goethe als Versuchsobjekt behandelte; wenn die vorgelegten Vertonungen, so Spaun, des Dichters Beifall fänden, würde Schubert sich der Komposition von Gedichten anderer Autoren zuwenden. Dies aber nur als Anmerkung. Erfreulicherweise hat sich Berberich von allerorten kursierenden Goethe-Anekdoten ferngehalten. Im Hinblick auf Faktizität kann man ihr vertrauen.

Es bleibt letztlich die Frage, für wen das Buch geschrieben ist. Den Mitgliedern der Goethe-Gesellschaft Hochrhein hat es hoffentlich ein Lektüreerlebnis beschert, das sie in ihrer Goethe-Neigung bestärkt. Überhaupt ist es ein Brevier für Freunde Goethes, die sich gegen die Zumutungen des Zeitgeistes, den die Autorin mehr als einmal zu Wort kommen lässt, zur Wehr setzen wollen. Insbesondere haben einige nicht namentlich in Erscheinung tretende Artikelschreiber in der „Süddeutschen Zeitung“ den Widerspruch von Eva Berberich erregt. Ob ihr Buch aber sich überlegen dünkende Naturforscher, bornierte Gegner des „alten weißen Mannes“ Goethe, dem Gendern oder anderen Wahngebilden verfallene Ideologen bekehren wird, muss man leider bezweifeln. Ich kann es nur wiederholen: Was sie Goethe in den Mund legt, kann man als sein Leser bestätigend nachvollziehen, was sie als ihre persönliche Lebenshaltung bekundet, weckt Verständnis und Sympathie. Zuweilen freilich, das sei angemerkt, tut sie des Aktuellen zu viel. Zur Zurückhaltung würde ich mahnen, wenn es um das zeitweilige Zurücktreten von Goethes „Faust“ in den Lehrplänen geht, und zu Gelassenheit raten; ganz gewiss wird der „Faust“ nicht aus der Schule verschwinden. Wenn Berberich Klimaaktivistinnen wie Luisa Neubauer und Greta Thunberg als Figuren einführt, das Corona-Geschehen nicht unberücksichtigt lässt, ausgiebig den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann mit seiner Waschlappen-Empfehlung zitiert, dann mag das für den Augenblick zur heiteren oder ernsten Belebung des gerade behandelten Themas beitragen, zugleich aber trägt es zur raschen Alterung des Textes bei.

Es sei schließlich nicht verschwiegen, dass auf S. 78f. auch die Weimarer ‚Muttergesellschaft‘ in das Buch Einzug hält. Einiges sei leicht gekürzt zitiert: „Nach reiflicher Überlegung verfasse ich einen Brief an die Goethe-Gesellschaft in Weimar, deren Mitglieder – alle Magister und Doktor gar – statt, wie ihre Satzung verkündet, ‚Goethe in seiner gegenwärtigen Bedeutung zur Geltung zu bringen‘, sich die Zeit damit vertreiben, sich gegenseitig ihre unterschiedlichen, immer ausgefalleneren Goetheinterpretationen um die Ohren zu hauen. […] Ich sei zur Erkenntnis gekommen, schreibe ich, die Poesie sei keine Erfindung des Menschen und somit nicht an dessen Natur gebunden, sondern artübergreifend. Sei ich doch befreundet mit einem äußerst poetischen Kater, geradezu der Verkörperung der Poesie, den Goethe, nach eigenem Bekenntnis, ungemein wertschätze. Dieser Kater also bringe auch selbst Poetisches hervor von überragender Qualität. Und so erlaube ich mir die Frage an die ehrenwerte Gesellschaft, ob nun die Geschichte der Poesie nicht nur erweitert, sondern sogar neu geschrieben werden müsse. Ein Thema, das zu erörtern sich doch lohnen würde und viel interessanter sei, als die hundertste Interpretation des Faust… – Auch könne man in Erwägung ziehen, neben dem sattsam bekannten Goethe-Schiller-Denkmal vor dem Theater ein zweites aufzustellen: Goethe und Kater, Kater in Goethes Arm, Kater zu Goethes Füßen (oder umgekehrt), Kater auf Goethes Schultern hockend, was sich ganz bestimmt förderlich auf den Tourismus auswirken würde. – Ich stelle mir die verdatterten Gesichter der Goethekennerinnen und Kenner bei der Lektüre des Briefes vor und die sich anschließende heiße Diskussion, bei der ich gerne Mäuschen wäre. – Den Brief werfe ich noch am gleichen Abend in den Briefkasten, dann geh ich schlafen. […] Auf eine Antwort der Goethe-Gesellschaft warte ich bis heute.“

Als heiteres, vielleicht übermütiges Spiel sehe ich derlei Bekundungen an. Albern wäre es, den Vorwurf abzuwehren, die Gesellschaft bestünde nur aus Magistern und Doktoren, die sich abseitigen Themen zuwenden. Die Anliegen der Goethe-Gesellschaft korrespondieren durchaus mit den Intentionen von Eva Berberich – es ist beinahe überflüssig, das zu sagen. Nehmen Sie bitte, verehrte Autorin, die Besprechung Ihres Buches als kleinen Ersatz für den in Ihrem Text eingeforderten Antwortbrief.

(c) tredition

Eva Berberich
Goethe, ein Mängelexemplar. Gespräche von Hüben nach Drüben

Hrsg. von der Goethe-Gesellschaft Hochrhein
Ahrensburg 2022
Hardcover, 252 Seiten
ISBN 978-3-347-77082-9

Preis: 10,00 €


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