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„dem Gebräude der Wolken zusehen … Zu den Bänden 9 und 10 der Schriften der Darmstädter Goethe-Gesellschaft

von Andreas Rumler

Die Mitglieder der Darmstädter Goethe-Gesellschaft genossen das Vergnügen, seit 2011 regelmäßig die Schriften ihrer Ortsvereinigung zu lesen. Mittlerweile ist Heft 10 herausgekommen, wobei der Titel „Heft“ von einem fast britisch zu nennenden Understatement zeugt, handelt es sich doch um ein handfestes Taschenbuch von gut 100 Seiten. Seit dem vierten Band: „Faust lesen, Faust verstehen“ hat Gernot Böhme als Nachfolger von Ulrike Leuschner die Herausgabe übernommen.  Die ersten drei Jahrgänge standen unter dem „Dichtung und Wahrheit“ entnommenen Titel: „Wie sehr dieser Kreis mich belebte und beförderte“ – ein Zitat aus dem zwölften Buch, in dem Goethe an seine Darmstädter Freunde erinnerte. Mit „Faust lesen. Faust verstehen“ (Band 4) beginnt die neue Folge; sie informierte „Über Goethes Lyrik“ (Band 5) und seine Romane (Band 6), „Über Goethes Naturwissenschaft“ (Band 7) und thematisierte „Goethes Epen und Balladen“ (Band 8). Inzwischen sind Band 9 erschienen: „Über Goethes dramatisches Werk“ und 10: „Über Goethes autobiographische Schriften“. 

Nun stehen also das dramatische Werk und autobiographische Schriften im Zentrum des Interesses. Zunächst einmal gibt Gernot Böhme einen umfassenden und gut begründet strukturierten Überblick über „Goethe als Dramatiker“ (9, S. 7-17). Aus Goethes Dramen „Faust“ und „Götz von Berlichingen“ speise sich angesichts der Aufführungspraxis hauptsächlich „die Vorstellung, die man sich von Goethe als Dramatiker macht. Sie sind es auch, die ihm schon früh einen Platz in der Weltliteratur gesichert haben.“ (9, S. 7) Ebenso führt er die großen Dramen an, die allerdings weniger Aufführungen erlebten: „Iphigenie auf Tauris“, „Egmont“, „Clavigo“ sowie „Torquato Tasso“ und „Stella“. (9, S. 7) Daneben erinnert er an andere Werk-Gruppen wie etwa die „Dramen, die als Reaktion auf die Französische Revolution bzw. die Spätzeit des Ancien régime anzusehen“ seien: „Der Groß-Cophta“, „Der Bürgergeneral“ und „Die Aufgeregten“ und schließlich „die zahlreichen Sing- und Festspiele“ (9, S. 7). 

Dieser breit gefächerte Überblick und seine Bedeutung für den Autor als Alternative zur eigenen Herkunft: „Das Theater war für den jungen Goethe eine Art Freiraum zur Ausbildung des Selbst.“ (9, S. 9) erlaubt Gernot Böhme nun, sich einzelnen Aspekten zuzuwenden: dem „Typ Goethe’scher Dramatik … etwa typische Handlungsverläufe oder wie Goethe … eine Spannung aufbaut und wie es dann zur Lösung kommt“ oder eben „bevorzugten Themen Goethe’schen Schaffens.“ (9, S. 10) Anhand einer Reihe einzelner exemplarisch gewählter Figuren von Götz bis zu Gretchen oder Marie Beaumarchais zeigt Gernot Böhme spezifische Strukturen auf, die für ihn die spezielle Qualität von Goethes Dramen kennzeichnen. Als „Drama im Sinne folgenschwerer Ereignisketten“ begreift er sie weniger, sondern „vielmehr sind diese Dramen die Entfaltung von eindrucksvollen Charakteren. Goethe stellt uns darin Möglichkeiten des Menschseins vor – doch nicht schlicht zur Nachahmung.“ (9, S. 17) Der Zuschauer solle Distanz wahren (können) und „sich dabei auch selbst finden“. (9, S. 17)         

Einen anderen Weg beschreitet Gernot Böhme, wenn er in seinem zweiten Beitrag „Goethes Dramen ‚Clavigo‘ und ‚Torquato Tasso‘“ untersucht (9, S. 37 – 45). Dabei kommt er allerdings ebenso wieder zu Ergebnissen, die einmal mehr Goethes Modernität belegen – nicht nur für seine Zeit. „Es scheint, dass Goethe […] gegenüber dem herrschenden Genderdiskurs, also den Vorurteilen seiner Zeit, bezüglich der spezifischen Geschlechtscharaktere eine Korrektur anbringen wollte.“ (9, S. 37) Seine Protagonisten zeichne ein gebrochenes Selbstbewusstsein aus, was sie in den Augen der weiblichen Partnerinnen aber eher sympathisch mache. Außerdem nehme er – in der Nachfolge von Shakespeares „Hamlet“ – eine Modernisierung des Theaters vor: eine „Art Psychologisierung der Tragödie“ (9, S. 37). In beiden Dramen durchbreche Goethe „die Stereotype der Geschlechtscharaktere“ (9, S. 45) seiner Zeit, „seine Darstellung der schwachen Männer“ (9, S. 45) sei aber „keineswegs kritiklos. Vielmehr scheitern beide, Clavigo wie Tasso, an sich selbst.“ (9, S. 45)

„Der alte Goethe hat uns dafür schon am Vorabend der Industrialisierung die Augen geöffnet“ (9, S. 35) beendet Hartmut Reinhardt seinen Essay „Ein rebellisches Feuer verglüht. Der Prometheus-Mythos in Goethes dramatischem Werk“ (9, S. 19 – 35). Nachdem er ausführlich diesen Mythos und seine Bedeutung von Goethes Zeit bis in die Gegenwart untersucht hat, kommt Hartmut Reinhardt auf „eine lyrische Großtat des jungen Goethe“ (9, S. 25) zu sprechen: die „Prometheus“-Hymne. Sie sei das „Relikt eines literarischen Scheiterns im Drama“ (9, S. 26); weil sie „mit ihrer Rebellion gegen die göttliche Autorität als Kritik an der zeitgenössischen Theologie und der Kirche aufgefasst werden konnte“ (9, S. 26), habe Goethe schließlich auf die Vollendung des Dramas verzichtet. Und Hartmut Reinhardt zeichnet detailliert nach, wie Goethe zwar an dem Personal festhält, den Mythos weiter bearbeitet, aber entscheidend modifiziert: in dem unvollendeten kulturmythischen Festspiel „Pandora“ und schließlich im Festspiel anlässlich des Siegs über Napoleon „Des Epimenides Erwachen“. Nichts mehr „von der Aura des schöpferischen Künstlers“ (9, S. 30) habe Prometheus nun: „Er ist reduziert auf den ‚homo faber‘, vertritt mit Strenge ein freudloses Arbeitsethos, betrachtet die Natur als reines Rohstoff-Reservoir, ohne im Mindesten an ökologische Schonung zu denken.“ (9, S. 30) 

Als „Ein Schauspiel, das es buchstäblich in sich hat“ begreift Ulrike Leuschner „Goethes ‚Der Triumph der Empfindsamkeit‘“ (9, S. 47 – 70) und will diesen heute kaum beachteten Text dem Vergessen entreißen. Dazu betrachtet sie das Werk im Kontext anderer Festspiele Goethes und der damaligen Bühnenpraxis, speziell der Tatsache, dass Goethe, um Corona Schröter einen angemessenen Auftritt zu ermöglichen, das Monodrama „Proserpina“ in die Handlung integrierte, oder, wie er selbst später formulierte: „freventlich in den ‚Triumph der Empfindsamkeit‘ eingeschaltet und seine Wirkung vernichtet“ habe (9, S. 62). „Gestatten Sie, daß ich Goethe hier widerspreche“, fährt Ulrike Leuschner fort, denn „dramaturgisch bedurfte es des großen Auftritts“ (9, S. 62). Und sie demonstriert anhand des breiten Spektrums an Motiven, die Goethe hier in seiner dramatischen „Grille“ (9, S. 55) ironisch variiert: von der nicht ernsthaften „Empfindsamkeit“ bis hin zu einem ins Absurde überzogenen Natur-Kult, wie wichtig ihm dieses vermeintliche „Werkchen“ war und wie aktuell es geblieben ist. Immerhin wurde für seine Aufführung anlässlich des Geburtstags der Herzogin auch ein erheblicher finanzieller Aufwand getrieben. Sogar formal nimmt dieses Stücke Ideen der Moderne vorweg. Denn Ulrike Leuschner fühlt sich „an das Epische Theater samt Bertolt Brechts derbem ‚Glotzt nicht so romantisch!‘“ erinnert, wenn Goethe auf der Bühne seinen Helden Andrason – den er selbst spielte – klagen lässt: „Der fünfte Akt geht zu Ende und wir sind erst recht verwickelt“, um vorgehalten zu bekommen: „Ihr seid ein Deutscher und auf dem Deutschen Theater geht alles an.“ (9, S. 56) 

„Goethes autobiographische Schriften“ beleuchtet Heft 10. Allein der Blick in das Inhaltsverzeichnis zeigt, dass es sich dabei um höchst unterschiedliche Darstellungsformen handelt. Einleitend beschäftigt sich Gernot Böhme mit Formen der Gattung und ihrer Geschichte: „Die Autobiographie als Text“ (10, S. 7 – 21). Gerhard Sauder greift das wohl bekannteste Werk Goethes auf: „Die Darstellung der Kindheit in ‚Dichtung und Wahrheit‘“ (10, S. 23 – 40) und kommt zu dem Schluss: „Die einzelnen Kapitel der Autobiographie sind Spiegel einer wachsenden dichterischen Welterfahrung.“ (10, S. 40) 

Eher unbekannt dürften auch vielen Goethe-Freunden seine Tagebücher sein, als  Herausgeber hat Jochen Golz deren historisch-kritische Ausgabe bis 2007 betreut und stellt seine Befunde hier vor: „Goethes Tagebücher“ (10, S. 41 – 57). Zu den „ältesten kulturellen Erinnerungsformen des Menschen“ zähle, sagt Jochen Golz, diese Textform, überliefert „aus den Hochkulturen des Alten Orients und der klassischen Antike“ (10, S. 41). Diese Form habe sich im Kern unverändert bis in unsere Zeit erhalten – in dem Maße allerdings, wie die Tagebuchschreiber dabei an eine Veröffentlichung dachten, habe sich der Charakter ihrer Aufzeichnungen verändert, „die dem Tagebuch seinen authentischen Charakter nehmen und es einem Genre literarischer Fiktionalität“ zuzuordnen nahelegen. (10, S. 42) Bezeichnend sei die Entwicklung der Texte im Fall Goethes. Dominierten in den ersten Weimarer Jahren „sehr persönliche Aufzeichnungen“ (10, S. 49), so entwickelten sich seine Texte hin „zu den im Kern protokollartigen Notizen der Spätzeit.“ (10, S. 49) Als „tägliche Buchführung mit sich selbst“ (10, S. 49) verstand Goethe diese Erinnerungen. Erstaunlich breit liest sich der Bereich der Themen, die hier im Diarium angesprochen werden. Da geht es um ganz alltägliche Arbeitsabläufe, Gesprächspartner und Inhalte oder um prinzipielle Fragen wie „sein auf internationale Kommunikation zielendes Konzept einer Weltliteratur“ (10, S. 55) fasst Jochen Golz zusammen und zitiert Goethe vom 14. September 1827: „Betrachtungen über National-Literaturen gegen sich selbst und gegen benachbarte Völkerschaften. Stockende National-Literaturen durch Fremde angefrischt.“ (WA III, 11, S. 109) 

Den sehr heterogenen Komplex „Goethes ‚Tag- und Jahreshefte‘“ (10, S. 59 – 77) hat Sibylle Schönborn beleuchtet und nähert sich dabei „einem weiteren groß angelegten Projekt autobiografischen Schreibens“ (10, S. 59). Da Goethe ständig seine Darstellungsformen reflektierte, konnte es nicht ausbleiben, dass auch seine autobiografischen Aufzeichnungen sich im Lauf der Jahrzehnte verändern. Ihr „vorläufiger Charakter“ ist Sibylle Schönborn wichtig: „So schwanken die ‚Tag und Jahreshefte‘ zwischen literarischer Erzählung und Bericht, Erinnerung und Reflexion, Anekdote und Abhandlung, bieten unzusammenhängende Einzelbeobachtungen und abschließende Deutungen eines biographischen Ereignisses, liefern Konstruktionen des Geschichtsverlaufs wie der darin eingeschlossenen individuellen Lebensgeschichte, stiften kohärenten Sinn und unterlaufen ihn zugleich; produzieren Vielstimmigkeit und Multiperspektivität, verwickeln sich ggf. sogar in Widersprüche.“ (10, S. 63) Als „Markenzeichen der Hefte“ begreift Sibylle Schönborn diese „Vielfalt und Vielschichtigkeit“ (10, S 63). Diese Form sei jedoch nicht zufällig entstanden, sondern eine „vielmehr poetisch bewusst komponierte Erzählung“ (10, S. 65). 

Das lässt sich an einem für Goethe besonders zentralen und wichtigen Ereignis zeigen: „Die Gestaltung von Schillers Todesjahr als biographische wie historische Zäsur in den ‚Tag- und Jahresheften‘ zeigt in ihrer Multiperspektivität und formalen Heterogenität des abrupten Wechsels von ernsthaften Betrachtungen, derber Komik, hintergründiger Ironie und beißender Satire – von Totengedenken und Feier des Lebens – eine weitere Attraktivität …, die die Modernität dieses Projekts im Gegensatz zu der klassischen Autobiographie ‚Dichtung und Wahrheit‘ erkennbar macht, indem sie auf die Konstruktion eines sinnhaft geschlossenen Ganzen verzichtet und stattdessen das Vorläufige, Widersprüchliche, den liminalen Augenblick, das Sowohl-als-auch der Übergangssituation zur Aufführung bringt.“ (10, S. 77)                     

Goethes berühmtes Aquarell des Freiheitsbaums mit Jakobinermütze nimmt Reiner Wild als Auftakt, die „Campagne in Frankreich 1792“ und die „Belagerung von Mainz“ genauer zu untersuchen (10, S. 79 – 90). Im Hintergrund ist Schengen zu sehen, seit 1985 ein Symbol für friedliches Miteinander in Europa und den Verzicht auf Grenzkontrollen. Goethe erlebt und beschreibt die „Campagne“ als Abfolge von Brutalitäten: „In den Kriegsszenen ist immer wieder vom Requirieren und Plündern die Rede“ (10, S. 86). Angesichts des Monuments von Igel wird seine Verurteilung des Feldzuges, an dem er gegen seinen Willen teilnehmen muss, deutlich: „Krieg erscheint als ein Zustand der Gewalt und der Willkür, als Zustand von Rechtlosigkeit schlechthin.“ (10, S. 87) Dagegen zeigen die Reliefs des antiken Denkmals, welche Möglichkeiten der Frieden bietet: „Geselligkeit und Tätigkeit, nicht zuletzt auch ökonomische“ (10, S. 87). Und Reiner Wild untersucht das Dilemma, in dem der Autor hier steckt: Seine Darstellung könnte als „gleichsam offiziöse Stellungnahme des Weimarer Ministers verstanden werden, dessen Fürst als preußischer General am Feldzug teilgenommen hatte“ (10, S. 84). Deshalb schreibt Goethe distanziert in der Rolle eines registrierenden Beobachters: „Politische Rücksichtnahme war geboten; persönliche Rücksichten kamen sicher hinzu.“ (10, S. 84) 

„Goethes Schweiz-Reisen“ in den Jahren 1775, 1779 und 1797 rückt Christoph Michel in das Zentrum seiner Überlegungen. Auch hier erleben wir wieder eine andere Facette autobiographischen Schreibens. Hier interessieren ihn die Natur und Gesteinsformationen, er beobachtet die Wolkenbildung, sah „dem Gebräude der Wolken zu“ (10, S. 98).Insgesamt liegt mit diesen inzwischen immerhin 10 Heften eine kleine, aber qualitativ hochkarätige Goethe-Bibliothek vor, die einerseits die Mitglieder daran erinnert, über was in der Gesellschaft gesprochen wurde und andererseits Literaturfreunden einen Einblick in Goethes vielfältiges Werk gibt, gleichermaßen verständlich und auch auf wissenschaftlichem Niveau.

Gernot Böhme (Hrsg.)
Über Goethes dramatisches Werk
Schriften der Darmstädter Goethe-Gesellschaft, Heft 9

Aisthesis Verlag, Bielefeld 
71 S.
ISBN: 978-3-8498-1362-8

Preis: 12,80 €

Auch als E-Book erhältlich:
ISBN: 978-3-8498-1454-0

Gernot Böhme (Hrsg.)
Über Goethes autobiographische Schriften
Schriften der Darmstädter Goethe-Gesellschaft, Heft 10

Aisthesis Verlag, Bielefeld
108 Seiten
ISBN: 978-3-8498-1514-1

Preis: 14,80 €

Auch als E-Book erhältlich:
ISBN 978-3-8498-1515-8

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 3/2020.


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