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Christiane Vulpius rettet Goethe – Beate Rygierts Roman „Frau von Goethe“

von Hannes Höfer

„Goethe kennt jeder. Jetzt kommt seine Frau zu Wort.“ Mit diesen Worten bewirbt Beate Rygiert auf ihrer Website ihren Roman „Frau von Goethe“, der den Untertitel trägt: „Er ist der größte Dichter seiner Zeit, doch erst ihre Liebe kann ihn retten“. Titel und Ankündigung senden hierbei unterschiedliche Signale. Denn angekündigt wird, dass jemand anderes als Goethe zu Wort kommen soll. Das erste, das wir durch den Untertitel erfahren, ist jedoch, dass diejenige, die hier zu Wort kommen soll, sich dadurch auszeichnet, Goethe zu retten. Sie definiert sich also zuerst einmal ausschließlich über denjenigen, den jeder kennt. Und schließlich heißt der Roman auch nicht „Christiane Vulpius“, sondern stellt uns eine „Frau von Goethe“ als Titelheldin vor. Und das hat womöglich weniger etwas damit zu tun, dass den Namen Vulpius jeder kennt und man ihn deswegen im Romantitel umschreiben kann, sondern eher damit, dass von der Unbekanntheit des Namens ausgegangen wird. Diese Zwiespältigkeit wird der Roman nie ganz los. Denn es wird uns einerseits aus der Perspektive von Christiane Vulpius ihr Leben als das einer starken, aufrichtigen und liebenswürdigen Frau vorgestellt. Andererseits liegt die Besonderheit dieser Lebensgeschichte hauptsächlich darin, die Frau dessen zu sein, den jede und jeder kennt.

Die Romanhandlung setzt ein im Juni 1788, den einzelnen Kapitel sind jeweils Handlungsort und -zeit vorangestellt. Christiane Vulpius arbeitet in einer Kunstblumenmanufaktur und lernt den gerade aus Italien zurückgekehrten Johann Wolfgang Goethe kennen. Es entbrennt schnell eine Beziehung zwischen beiden, der Roman präsentiert Goethe als leidenschaftlichen und versierten Liebhaber. Und als etwas unzuverlässig in der Alltagskommunikation, denn Vulpius muss immer wieder bangen, ob der manchmal wortkarge Goethe sie immer noch liebt, zumal man sich ja darauf verständigt hat, „[e]ine wilde Ehe“ (97) zu führen, wie Goethe es im Roman unzeitgenössisch nennt. So entsteht eine Erzählung gemäß dem Grundmuster „Kriegen sie sich oder kriegen sie sich nicht?“ mit einem Wechsel aus Erfüllung, Zweifeln, Bangen, Schicksalsschlägen, Glücksmomenten und einem glücklichen Ausgang: Sie kriegen sich, wobei sie sich von Anfang an haben, der Roman aber erst in der Eheschließung sein Happy End findet. Die Handlung endet im Oktober 1806, Christiane Vulpius heißt nun von Goethe und ist nach ihrer Einführung in den Salon von Johanna Schopenhauer gesellschaftlich integriert. Ein „Nachwort“ erläutert auf einer knappen Seite die weiteren zehn Jahre bis zu Christiane von Goethes Tod 1816. Die nachfolgende „Danksagung“ zeigt an, dass Rygiert ausführlich recherchiert hat, um ihre Romanhandlung nicht von den historischen Tatsachen abweichen zu lassen. Wo sie es doch tut, wird es im Roman ausgestellt. Das betrifft vor allem die für den Roman zentrale Frage, was Goethe schließlich dazu bewog, Vulpius zu heiraten. Der Roman schließt sich der gängigen Mutmaßung an, dass Vulpius Goethe in der Nacht vom 14. auf den 15. Oktober 1806 das Leben gerettet hat, und lässt Vulpius alle Vorsicht im Einsatz für ihre Liebsten vergessen: Bewaffnet mit zwei Pistolen, die nicht geladen sind, stürmt sie auf die französischen Eindringlinge ein, die Goethe bereits ein Bajonett auf die Brust gesetzt haben. Der Bluff gelingt und die Soldaten fliehen. Diese furiose Szene ist nicht überliefert. Wird es in Sigrid Damms maßgeblichem Buch „Christiane und Goethe. Eine Recherche“ als plausible Vermutung präsentiert, dass Vulpius das Leben von Goethe rettete, wird es bei Rygiert Tatsache, allerdings eine Tatsache, die auf die Fiktion des Romans beschränkt bleibt. Als Goethe den Heiratsantrag macht und erläutert, warum er den 14. Oktober als Verlobungsdatum in die Ringe hat eingravieren lassen, sagt er:

„Ich hab das Datum von letzter Nacht eingravieren lassen“, fuhr er fort, so als hätte sie nichts gesagt. „Als du mir das Leben gerettet hast.“ Erst jetzt sah er ihr in die Augen. „Die hätten mich nämlich umgebracht, Christel“, fügte er leise hinzu. „Es wird zwar nie jemand erfahren. Trotzdem ist es die Wahrheit.“ (362)

Der letzte Satz ist keine Drohung an Vulpius, beide haben sich vorher schon darüber verständigt, dass sie niemandem über die Ereignisse berichten wollen. Es ist der Hinweis an die Leserinnen und Leser, dass sie gerade etwas gelesen haben, das erfunden ist, der fiktive Charakter des Geschilderten jedoch der erzählerischen Authentizität dieser Liebesgeschichte keinen Abbruch tut. Diese Vorsichtsmaßnahme baut Rygiert vielleicht gerade deswegen ein, weil der Roman umfassend darum bemüht ist, auszustellen, dass er auf Fakten basiert. Wenn Goethe und Vulpius sich über ein Experiment unterhalten, bei dem eine mit Sand bestreute Metallplatte mithilfe eines Geigenbogens zum Schwingen gebracht wird, erläutert Goethe:

„Das hat ein gelehrter Mann aus Wittenberg namens Ernst Florens Friedrich Chladni herausgefunden. Letztes Jahr hat er eine höchst interessante Schrift veröffentlicht, er nannte sie „Entdeckungen über die Theorie des Klanges“. Darin beschreibt er dieses Phänomen und verrät, wie die Muster entstehen. Er nennt sie Klangfiguren.“ (77f.)

Möglicherweise würde man in einem Gespräch nicht alle Vornamen eines Forschers und den vollständigen Titel einer Schrift nennen, aber so kann nichts schiefgehen, falls man zu den hier beschriebenen Dingen noch einmal Google oder Wikipedia befragen möchte. Um dies zu gewährleisten, kommen nahezu alle Nebenfiguren mit vollständigem Namen und Berufsbezeichnung vor, und wenn es um die Bildnisse geht, die von Vulpius existieren, fordert der Roman förmlich dazu auf, das Bild nachzuschlagen: Die Zeichnung von Johann Heinrich Lips aus dem Jahr 1791 kommt wie folgt zustande:

Eines Tages bat er sie, ihm endlich für das Porträt zu sitzen, das er Goethe versprochen hatte. Als ihr keine Ausrede mehr einfiel, zog sie ihr schönstes Kleid an, kämmte ihre Locken und flocht ein Band in ihr Haar. Dann folgte sie seinen Anweisungen und setzte sich auf den Stuhl, den er ihr an das Tischchen in der Diele geschoben hatte. Ohne es anzusehen, legte sie das Buch auf ihren Schoß, das er ihr aus der Bibliothek geholt hatte, stützte sich mit dem rechten Ellenbogen auf den Tisch auf und blickte schräg an ihm vorbei, genau so, wie er es sie geheißen hatte:
„Wenn Sie jetzt ein wenig lächeln mögen?“
Sie tat ihr Bestes. Und dennoch sah man der Zeichnung später an, dass ihr überhaupt nicht zum Lachen zumute gewesen war. (162)

Zu den späteren Betrachterinnen gehört auch Sigrid Damm, deren Bilddeutung sich Rygiert hier anschließt: Vulpius schaut abwesend, weil sie unmittelbar vorher ihr zweites Kind verloren hat, es kam tot zur Welt. Durch ihre Bildbeschreibung lädt Rygiert also nicht nur diejenigen zu einer weitergehenden Recherche ein, die noch nicht allzu viel über Christiane Vulpius wissen, sie geheimnist für Kennerinnen und Kenner auch eine Anspielung auf das Buch von Damm hinein, die hier als spätere Betrachterin einen Gastauftritt bekommt.

Der Roman legt also viel Wert darauf, das Geschilderte als tatsächlich Geschehenes zu beglaubigen. Gleichzeitig gehen die beiden Figuren Goethe und Vulpius vollkommen im Stereotyp auf: Goethe ist der männliche Held, leidenschaftlich, attraktiv, geheimnisvoll, in den richtigen Momenten wahlweise anpackend oder zuneigungsbedürftig. Vulpius ist die weibliche Heldin, unverstellt, lebensfroh, bis zur Selbstverleugnung aufopfernd, manchmal zaudernd, aber in den richtigen Momenten schlagfertig und durchsetzungsstark. Mit diesen Merkmalskombinationen könnten die beiden Figuren auch X und Y heißen (bitte ergänzen Sie die Platzhalter mit den Namen der beiden Figuren aus Ihrem Lieblingsliebesfilm oder -roman). Man muss die tatsächliche Liebesgeschichte zwischen Christiane Vulpius und Johann Wolfgang Goethe also nicht sonderlich umgestalten, um sie den Anforderungen eines unterhaltsamen Liebesromans mit dramatischen Wendungen und glücklicher Hochzeit zum Schluss anzupassen. Auf der Buchempfehlungsseite www.lovelybooks.de wird diese Erzählweise unter dem Nutzernamen „Karschtl“ sehr gelobt:

Ich musste mich wirklich zusammenreißen, nicht mittendrin schon nach Bildern usw. zu googeln, um nicht unabsichtlich die Lebensdaten von Christiane zu sehen, oder zu erfahren wie viele Kinder sie mit Johann Wolfgang von Goethe hatte, oder ob er sie irgendwann doch noch ehelicht. Da wollte ich mir die Spannung am Buch nicht verderben, und hab das Buch dafür umso schneller gelesen.

Es sieht also ganz so aus, als sei Beate Rygiert ein Page-Turner mit der Möglichkeit zur vertiefenden Recherche gelungen. Ob man das Rechercheangebot annimmt, bleibt jeder Leserin und jedem Leser überlassen. „Karschtl“ zumindest hat sich für die Wahrheit der Literatur entschieden: „[A]ußergewöhnlich war Christiane Vulpius wirklich. Stark, mutig, zupackend. So zumindest wird sie von Beate Rygiert portraitiert. Und ich möchte gerne glauben, dass zumindest das Meiste davon der Wahrheit entspricht.“

Beate Rygiert
Frau von Goethe
Roman

Berlin 2021
Paperback, 376 Seiten
ISBN: 978-3-7466-3665-8

Preis: 12,99 €


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