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Aus dem Leben der Goethe-Gesellschaft, Interview

Vorstandsmitglieder im Portrait: Prof. Dr. Larissa Polubojarinova


Als neues Mitglied im Vorstand der Goethe-Gesellschaft stellen wir Frau Prof. Dr. Larissa Polubojarinova, Professorin für Literaturwissenschaft an der Universität St. Petersburg, in Frage und Antwort vor.

Wie kamen Sie zu Goethe und zur Goethe-Gesellschaft?

„Erlkönig“, „Willkommen und Abschied“, „Über allen Gipfeln“ waren bereits im schulischen Deutschunterricht ganz zentral und gingen unter die Haut, wo sie auch blieben. In die Weimarer Goethe-Gesellschaft wurde ich 2007 dankenswerterweise von Prof. Dr. Werner Frick eingeführt, der damals Vorstandsmitglied war.

Ist Goethe noch aktuell oder eher ein Gegenstand für die Wissenschaft und das Museum?

Eindeutig das Erstere. Goethe bleibt aktuell, das wird auch im germanistischen Unterricht bei der Kommunikation mit Studierenden immer wieder bestätigt. Für die ungeminderte Gegenwärtigkeit Goethes bürgen seine – von der jüngeren Generation ebenfalls als ‚aktuell‘ verifizierten – Intuitionen wie Weltliteratur, Netzwerkbildung, sein Interesse für Amerika und den islamischen Osten, für das Phänomen der Beschleunigung wie seine in „Faust II“ real umgesetzte Idee eines offenen Kunstwerks. 

Goethe war Dichter, Wissenschaftler und Politiker – ist eine solche Vielseitigkeit heute denkbar oder gar wünschenswert?

Als Politiker auch noch ein Schöngeist und/oder ein Wissenschaftler zu sein würde der Politik wahrscheinlich nicht schaden. Bei Goethe war die Möglichkeit, mehreren Neigungen zu frönen, ebenso ein Effekt der Begabung und Selbstdisziplin wie eines objektiv günstigen Umfeldes im elterlichen Haus wie am Weimarer Hof. Theoretisch könnte sich eine hochtalentierte Persönlichkeit bei ähnlich günstiger Konstellation auch heutzutage wohl zu so etwas wie einem Universalgenie entwickeln.        

Welche Eigenschaften Goethes sagen Ihnen am meisten zu?

Seine Weltgewandtheit und Offenheit, die sich (trotz relativ weniger Auslandsreisen) im hohen Internationalisierungsgrad seines Lebens und Werks niederschlug, seine exzeptionelle Selbstdisziplin und natürlich seine menschliche Umgänglichkeit, etwas, was man am besten mit dem französischen Amabilité wiedergibt.  

Welche Werke Goethes stehen Ihnen besonders nahe?

In jungen Jahren ging mir natürlich nichts über „Werther“. Mit dem Alter entdeckt man einen besonderen, herben Reiz in seinen späteren Werken, mit ihrem wie bewusst herausgekehrten Anflug einer nonchalanten Heterogenität, wie „Faust II“, „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, „Zahme Xenien“.   

Gibt es Autoren, die Sie in gleicher Weise beeindrucken?

Das auf mich als Leserin ähnlich wirkende goldene Klassizitätsmaß besitzt für mich Alexander Puschkin. 

Welche Funktionen kann oder soll die Literatur aus Vergangenheit und Gegenwart heute haben?

Trotz dem proklamierten Ende der Gutenberg-Ära und der offensichtlichen Expansion der neuen technisierten bzw. visualisierten Medien vom Film bis hin zu graphic novel und video games bleibt der Reiz der Literarizität bis jetzt weiter erhalten. Mehr noch, die neuen Medien wie die sie bedienenden Theorien zehren ja selbst von althergebrachten, genuin literarischen Substanzen wie Plot, Story-Telling, Mimesis, Katharsis, Empathie. Die klassische wie die gegenwärtige Literatur soll und wird dank ihrer gottseidank nach wie vor zahlreichen Leserschaft bleiben als ein Hort und eigentliches Reservoir jenes, mit W. Benjamin zu sprechen, für die Menschheit objektiv unabdingbaren „Netzes, in das Gabe zu erzählen gebettet ist“.   

Weimar ist Sitz der weltweit tätigen Goethe-Gesellschaft; was verbindet Sie mit dieser Stadt?

Im Sommer 2007 konnte ich während eines mehrwöchigen Weimar-Aufenthalts als Stipendiatin der Goethe-Gesellschaft diese sehr besondere Stadt, deren Reiz und semiotische Dichte mit ihrer Größe wie im umgekehrten Verhältnis steht, ausführlich kennenlernen und verlor mein Herz an sie, so dass nun jeder nächste Besuch auf mich wie ein Mekka-Gang wirkt. Die mich alle zwei Jahre nach Weimar zu Hauptversammlungen begleitenden Studenten merken irgendwie meine Aufregung und Begeisterung und werden davon nicht selten selber gleich angesteckt.

Wie möchten Sie die Goethe-Gesellschaft mitgestalten?

Als Vorstandsmitglied, dem vor allem die Unterhaltung der „internationalen Kontakten in die slawische Hemisphäre und nach Asien“ zufällt, freue ich mich vor allem auf die Gestaltung der Foren „Goethe weltweit“ als eine gute Möglichkeit, goetheanische Netzwerke zu explorieren und weiter zu  stärken.

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 3/2020.


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