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Stipendiatinnen im Gespräch: Yue Li
Zwischen Juli und September 2021 war eine junge chinesische Germanistin, Frau Yue Li, im Rahmen des Werner-Keller-Stipendienprogramms in Weimar zu Gast. Frau Li, seit einigen Jahren in Heidelberg lebend, promoviert zu dem Thema „Das andere Theater Goethes. Maskenzug, Hoffeierlichkeit und Karneval zwischen multimedialer Festkultur und theatralischem Experimentierfeld“. Es versteht sich beinahe von selbst, dass sie für dieses Thema in Weimar zahlreiche Originalquellen studieren konnte.
Wie haben Sie selbst zur deutschen Kultur gefunden, welche Einflüsse haben eine besondere Rolle gespielt?
Das Deutschlandbild in China ist in vieler Hinsicht sehr positiv. Abgesehen von den sonstigen, international bekannten Eigenschaften wie Pünktlichkeit und Sorgfältigkeit schätzt man in China die Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges in Deutschland sehr, welche oftmals als Gegenbeispiel zu Japans Umgang mit dem Massaker von Nanking betrachtet wird. Außerdem ist auch das Erinnerungsbuch „Zehn Jahre in Deutschland“ des berühmten chinesischen Linguisten Ji Xianlin (1911–2009) sehr verbreitet. Zwar liegt sein Studium an der Universität Göttingen fast achtzig Jahre zurück, dennoch haben seine Eindrücke meine Vorstellung von Deutschland, deutschen Universitäten und Gelehrten sehr stark geprägt. Darüber hinaus hat gerade der „abscheuliche“ Ruf der deutschen Sprache, zu welchem Mark Twain einen humorvollen Beitrag geleistet hat, mich als junge Frau fasziniert und dazu herausgefordert, diese zu lernen und mich damit zu befassen. Was ich damals vor dieser ‚kühnen‘ Tat nicht geahnt habe, ist, dass dieses Lernen sich bis heute, also schon über zwölf Jahre, erstreckt und zu einer Lebensbeschäftigung wird.
Wie haben Sie das Thema für Ihre wissenschaftliche Arbeit gefunden?
Im Masterstudium habe ich mich mit Goethes Schrift „Das Römische Carneval“ beschäftigt und dramatische Züge (aristotelische Einheiten) in diesem oft als ‚Reisebericht‘ gelesenen Werk herausgearbeitet. Dieses Ergebnis hat mich dazu geführt, weitere ‚theateraffine‘ Werke von Goethe zu suchen und sie aus einer theaterwissenschaftlichen Sicht zu betrachten. Die Maskenzüge am Weimarer Hof beispielsweise dienen wegen ihrer ephemeren Eigenschaften gerade als Experimentierfeld, das die Entwicklung des goetheschen Theaterverständnisses aufzeichnet.
Was wussten Sie von Weimar, bevor Sie die Stadt kennengelernt haben? Was wussten Sie über die Goethe-Gesellschaft?
Durch meine intensive Auseinandersetzung mit Forschungsliteratur während meiner Masterarbeit bin ich an den Weimarer Goethe-Kreis (Seckendorff, Kotzebue, Musäus, Böttiger usw.) herangekommen. Darüber hinaus waren mir die Namen der Orte in der Weimarer Umgebung, die mit Theater verbunden sind, bekannt, zum Beispiel das Eckhoftheater in Gotha, die Stadt Meiningen sowie Bad Lauchstädt. Außerdem hat mich meine momentane Arbeit mit den Maskenzügen mit dem Kreis um den Weimarer Hof (Egloffstein, Göchhausen, Kirms, die Herzogsfamilie usw.) vertraut gemacht.
Meine Beschäftigung mit Goethes Werken und das Heranziehen von Forschungsliteratur aus dem Goethe-Jahrbuch waren zudem der Weg, über welchen ich von der Goethe-Gesellschaft erfahren habe. Auf der Homepage der Goethe-Gesellschaft bin ich auf das Werner-Keller-Stipendium aufmerksam geworden.
Wie beurteilen Sie den Verlauf Ihrer Studien in Weimar; gibt es Wünsche, bei deren Erfüllung die Goethe-Gesellschaft helfen kann?
Meine Studien in Weimar waren eine Bereicherung für meine Forschung. Auch im digitalen Zeitalter, in dem fast alle Informationen und Literatur online zur Verfügung stehen, war mein Aufenthalt in Weimar unersetzbar. Erst durch die Sichtung von Archivalien ist mir bewusst geworden, welche markante Rolle die Festlichkeit im Hofleben am Ende des Ancien Régime gespielt hat. Diese neuen Erkenntnisse vergegenwärtigen die Bedeutung der Maskenzüge als ein Bestandteil der Festkultur und bestätigen gleichzeitig auch meine Hypothese, diese als multimediale Gesamtkunstwerke zu betrachten.
Die lehrreichen, informativen Gespräche mit Herrn Golz und Herrn Matuschek und der Vortrag von Herrn Kaiser haben mich auf Forschungsliteraturen aufmerksam gemacht, die ich vorher nicht kannte. Ausflüge in Goethe-Städte in der Umgebung von Weimar, der Besuch des Goethe-Theaters in Lauchstädt und des Liebhabertheaters in Großkochberg veranschaulichten meine Vorstellung vom Theater, das nicht nur für das breite Publikum als eine „moralische Anstalt“, sondern auch ganz oft als eine Art „geselliges Beisammen-Sein“ fungierte, welches, vielleicht gerade in Rahmen des Strukturwandels der Öffentlichkeit, einen Versuch gegen die Privatisierung des Lesens am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts bildet.
Darüber hinaus eröffnete der Aufenthalt in Weimar für mich eine neue Dimension, Literaturgeschichte zu studieren und zu erleben, nämlich durch die Spurensuche in den Museen und Städten, wo Autoren gelebt und gewirkt haben. Zwar spielen das Lesen und das Schreiben für Literaturwissenschaftler eine unersetzbare Rolle, jedoch verdeutlichten mir die Ausflüge in der Gegend um Weimar, insbesondere bereichert durch die informativen, aufschlussreichen Führungen von Herrn und Frau Golz, wie greifbar das durch Lesen und Schreiben erworbene Wissen werden kann, wenn man nicht nur in seiner Stube sitzt. Diese wertvolle Erfahrung versuche ich auch weiter in meinem Studium umzusetzen, angefangen bei Reisen in der Umgebung meiner Studienstadt Heidelberg bis hin zur Spurensuche des jungen Schillers und der Rheinromantiker.
Wie ist Ihr aktueller Eindruck von Deutschland allgemein, ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen, im guten wie im weniger guten Sinne?
Die drei Monate in Weimar haben meinen Eindruck von Deutschland in vieler Hinsicht verändert, obwohl ich schon seit 2015 in Deutschland lebe und studiere. Es fiel mir am Anfang schnell auf, dass ich oft in Gespräche über Ost-West-Deutschland involviert wurde, was ich vorher noch nie in meiner Studienstadt Heidelberg erlebt hatte. Ich habe das Gefühl, dass die Teilung und Wiedervereinigung von Deutschland noch sehr aktuelle Themen in Weimar sind, während man in Heidelberg nie darüber spricht. Außerdem haben auch die vielen Wochenend-Ausflüge in der Umgebung von Weimar meine Kenntnisse über Duodezhöfe und die Kleinstaaterei in Deutschland sehr vergegenwärtigt. Darüber hinaus hat Weimar als ein Teil des ehemaligen Großherzogtums Sachsen-Weimar mein Interesse an der Geschichte Deutschland neu belebt. Wo sind die Grenzen des ehemaligen Großherzogtums? Welche anderen Herzog – und Kurfürstentümer gab es auch? Wie hat sich die heutige Grenzziehung entwickelt? Im Studium habe ich zwar auch Grundkenntnisse darüber erworben, jedoch blieben sie in meinem Gedächtnis als sehr vage Erinnerungen. Es sind auch die Vororte, die Straßennamen, die Wappenschilder auf Gebäuden und die kleinen Spuren dieser Vergangenheit, die meine Neugier erwecken.
Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 3/2021.