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Aus dem Leben der Goethe-Gesellschaft, Goethe weltweit, Rückblick

„Weltliteratur“ und … Standing Ovations – einige Eindrücke von der 88. Hauptversammlung 2023

von Andreas Rumler

„Endlich!“ – diesen Stoßseufzer meinte man leise zu hören, als morgens gegen 9.00 Uhr die Mitglieder im „mon ami“ zusammenkamen, das „Symposium junge Goetheforschung“ zu erleben. Coronas wegen musste die letzte Hauptversammlung entfallen und nicht wenige hatten diese Zusammentreffen, die Begegnungen mit Freunden und Kollegen, „wiederholte Spiegelungen“ ihrer Goethe-Erlebnisse, Besuche in den Gedenkstätten und natürlich Informationen und Anregungen aus der neueren Forschung, vorgetragen auch von Vertretern anderer Länder, schmerzlich vermisst. Hilfreich für diejenigen Mitglieder, die es nicht rechtzeitig schafften anzukommen, war, dass vor dem Tagungsbüro wieder die Abstracts auslagen. In der Stadt Literatur- und speziell Goethe-Freunden zu begegnen, hatten viele Mitglieder lange entbehren müssen. Ein älterer Kollege murmelte, er habe bereits unter Entzug gelitten, Weimar so lange nicht besuchen zu können.

Gerade das Interesse jüngerer Forscherinnen und angehender Gelehrter belegt, wie aktuell Goethe in jeder Beziehung sein kann, liest man ihn unvoreingenommen. Die vielseitige Offerte zu Beginn erwies sich einmal mehr als ein heimliches Highlight der Mitgliederversammlung. Einige der etablierten Koryphäen hatten Studentinnen und Studenten mitgebracht, Stipendiatinnen und Stipendiaten waren ebenfalls vertreten, und so bekam der Austausch in den Pausen oder abschließende Empfang am späteren Mittwoch den Charakter eines kleinen internationalen Kolloquiums, bei dem Gäste aus China oder Brasilien überrascht feststellen konnten, dass die Weimarer Küche außer den legendären Thüringern vom Rost auch Brätel zu bieten hat.

Zweierlei wurde zum Auftakt handfest deutlich: Goethe ist eben nicht nur ein Thema für ältere Semester, nach mühsam erarbeiteter Karriere, sondern vermag auch jüngere Menschen zu faszinieren. Und vor allem hat er ihnen etwas zu sagen, nicht nur wegen seiner ästhetischen Qualitäten, sondern auch durch seinen Blick auf die Natur. Er wollte sie nicht nur erschöpfend ausbeuten, sich die Erde „untertan“ machen, ohne Rücksicht auf Verluste. Das war besonders den Gästen im Kreis um Marcus Mazzari aus Brasilien wichtig, erleben sie doch fast hautnah die Vernichtung des Regenwaldes am Amazonas einschließlich des Völkermords an ihren indigenen Nachbarn und Nächsten.

Ins Offene …

Allem Anfang wohne ein Zauber inne, wusste bereits der Naturfreund Hesse, und das lässt sich getrost auch auf diese Hauptversammlung nach der Corona-Pause beziehen. Ungewohnt für einige Mitglieder war, dass die offizielle Eröffnung nicht im Deutschen Nationaltheater und damit quasi zu Füßen Goethes und Schillers stattfinden konnte – zumindest der Weg dorthin unter ihrem wachen Blick erfolgte. Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass dieser Teil der Weimarhalle mit dem Blick in den frühsommerlichen Park durchaus als Alternative durchgehen konnte. „Komm! ins Offene, Freund! …“ war man versucht, sich an Hölderlin zu erinnern. Goethe hat den Bereich an der Ilm gestaltet, hier hätte er sicher auch gern Hand und Spaten anlegen lassen oder Entwürfe beigesteuert. Aber diese Aussicht, Spaziergänger und Vögel beobachten zu können, dürfte auch ihn erfreut haben.

Stellvertretender Ministerpräsident und Umweltminister in Thüringen, Bernhard Stengele (Foto: Johannes Krey | JKFotografie&TV)

Weniger steif saß man jedenfalls als in den engen Reihen des Theaters und auch die Reden waren angetan, die Stimmung aufzulockern. In seinem Grußwort zitierte der stellvertretende Ministerpräsident des Freistaates Thüringen, Herr Bernhard Stengele, Goethes Prometheus-Ode und erinnerte daran, wie der den Menschen das Feuer gebracht habe, aber hier auf Erden inzwischen mit Errungenschaften dieser Art so unsachgemäß umgegangen werde, auf kurzfristigen Gewinn fixiert, dass letztlich die Existenz des Planeten auf dem Spiel steht. Und natürlich ließ es sich der Oberbürgermeister Weimars, Herr Peter Kleine, nicht nehmen, die Goethe-Gemeinde zu begrüßen und wies an Hand eines Briefes aus dem Jahr 1827 darauf hin, dass der Dichter den Begriff „Weltliteratur“ zwar nicht geprägt habe, im Geist kollegialen Austauschs und völkerverbindender Kontakte aber so handelte, als er im Rahmen der damals bekannten Welt mit Gelehrten und Dichtern korrespondierte.

Ein wenig relativierte Frau Professorin Dr. Bénédicte Savoy dann das Bild eines freien und vorurteilslosen globalen Diskurses in der Tradition der Klassik mit ihrem Festvortrag „Goethe, Afrika und wir dazwischen“, als sie konkreter ausführte, dass bereits Goethe ähnlich euro-zentristisch orientiert dachte, wie wir es nicht erst seit dem Kolonialismus gewohnt sind. Gewiss, einigen wenigen Afrikanern gelang es, sich der Sklaverei zu entziehen und in Europa hohe Ämter zu bekleiden, stets blieben sie aber als Exoten Ausnahmen und Außenseiter, von der weißen Mehrheit argwöhnisch beäugt. Und sie verwies auf Ihre jüngst in Berlin vorgestellte Untersuchung „Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland“. Licht bringt sie in dieses schamhaft verschwiegene Kapitel gnadenloser Christianisierung und kolonialen Raubes unter dem Deckmäntelchen frommer Nächstenliebe. In Berlin hat das „Haus der Kulturen der Welt“ mit Bonaventure Soh Bejeng Ndikung gerade einen neuen Intendanten bekommen. Dort will man nun einen wirklich freien Dialog beginnen. Nur konsequent ist es, dass während der Kolonialzeit aus Afrika verschleppte Schätze wie die Benin-Bronzen heute in dem restaurierten Hohenzollern-Schloss präsentiert werden: symbolisch im Haus der Täter. Frau Savoy wies darauf hin, dass die Debatte um dieses peinliche Erbe noch lange nicht abgeschlossen sei.

Goethe drängte seinerzeit aus gutem Grund und mit vollem Recht auf die Restitution von Kunstwerken und kulturellen Zeugnissen, die Napoleon im Schutz seiner Armeen überall in Europa einzusammeln vermochte, vorübergehend wenigstens. Freilich war die Ausplünderung oder Zerstörung kultureller Schätze in Afrika nie Goethes Thema. Aber an seinem Vorbild kann man sich auch hier orientieren. In seinem Horizont habe der Süden keine Rolle gespielt, er richtete den Blick auf den Orient, bereicherte seine Dichtung mit lyrischen Perlen des Koran oder Werken des Kollegen Hafis. Besonders interessant war Frau Savoys Bericht, wie sie Deutsch als eine Fremdsprache in Frankreich gelernt hatte, mit ähnlichen Materialien bekamen damals Kinder in den früher französisch besetzten Territorien Afrikas diese Sprache vermittelt. Wichtig sei, koloniale Denkstrukturen zu ändern, in der Sprache und ihrem Gebrauch schlügen sich Machtverhältnisse und Ideologien nieder.

Bénédicte Savoy spricht über Deutsch-Lehrbücher aus ihrer Schulzeit. (Foto: Johannes Krey | JKFotografie&TV)

Dass der Dialog über Goethe weltweit, über seine Werke und Ideen, überhaupt funktionieren kann, ist das Verdienst derjenigen Philologen, die sich in mühevoller Klein- und Feinstarbeit seiner Texte bemächtigen und sie in die Sprachen ihrer jeweiligen Heimat übersetzen. Diese und andere Leistungen zu würdigen, versucht die Gesellschaft, indem sie Goethe-Medaillen verleiht. In diesem Jahr an Frau Professorin Dr. Helena Cortés Gabaudan aus Vigo, an Herrn Professor Dr. Maoping Wei aus Shanghai und Herrn Professor Dr. Marcus Mazzari aus Sao Paulo. Wir werden darauf in einem eigenen Beitrag zurückkommen. Weltoffenheit, Bereitschaft zu globalem Dialog und dazu, den eigenen Horizont ständig zu erweitern, stets wache Neugier im besten Sinn und Wissbegierde, wie Goethe sie verkörperte, ist vor allem auch eine Aufgabe für die Zukunft.

Tor zur Klassik …

Angesichts eines „Klassikers“ stellt sich auch immer wieder die Frage, wie sehr er gelesen wird, ob seine Gedanken und sein Werk eine nennenswerte Rolle spielen. Längst vorbei die Zeit, als es zum „Guten Ton“ gehörte, dekorative Ausgaben der Dichter als akademische Tapete sichtbar zu präsentieren und zu kennen. Die alte (immerhin arg zerlesene) Jugendstil-Ausgabe meines Großvaters dokumentiert, was Schüler damals an griechischer Mythologie mit dem „Faust“ oder „Prometheus“ vermittelt bekamen. Sprach Brecht noch von „Einschüchterung durch … Klassizität“, so hat sich mittlerweile – schlimmer noch – ein Desinteresse breitgemacht, Müdigkeit und Ermattung schleichen sich ein. Texte wie der „Faust“ fehlen in Lehrplänen. Zu fragen wäre, ob unter dem Druck aktueller Schul- und Lernbedingungen eine angemessene Auseinandersetzung, die Jugendliche wirklich interessiert, zu leisten ist.

Just dieser Überlegung stellte sich Frieder von Ammon, als er auf dem Podium die Diskussion moderierte „Wie präsent ist Goethe? Seine Gegenwart in Schule, Theater, Kino, Medien und Buchhandel“. Nicht ohne eine gewisse Enttäuschung konstatierte Jonathan Landgrebe, dass von schulischer Lektüre leider nicht der Deutsche Klassiker-Verlag und damit Suhrkamp profitiere, sondern eher Reclam. Allein, Lektüre-Hilfen wie in der BasisBibliothek öffnen zahlreichen Jugendlichen das Tor zur Klassik-Welt. Die verdienstvolle Gesamtausgabe ist derzeit nicht komplett lieferbar. Gedichtbände und spezielle Anthologien – etwa Weihnachten bei Goethe – stoßen allerdings immer wieder auf Interesse.

… mit Chor-Einlagen …

Über weite Strecken verlief die Diskussion moderat, dem Charakter klassischer Gediegenheit angemessen und wohl dem mittäglichen Ruhebedürfnis nach dem Genuss deftiger Thüringer Küche, bis Dorothee Wieser, sprachlichen Neuerungen und sozialen Verhältnissen gegenüber aufgeschlossen wie Goethe selbst, sich erlaubte zu gendern. Das rief spontan erregte Störgeräusche hervor. Kurz blitzte hier akustisch die Hexenküche auf. Schade eigentlich und nicht eben ein Zeichen von Toleranz. An Hand von Videos demonstrierte Enrico Lübbe, dass es möglich ist, mit Fantasie und genauer Lektüre auch einem auf der Bühne so häufig gestalteten Text wie dem „Faust“ bislang ungeahnte Aspekte und neue Bilder abzugewinnen. Seine Inszenierung überwand das hochgewölbte, enge gotische Zimmer und überließ Szenen dem Chor, nicht ganz leicht verständlich wegen der technischen Möglichkeiten des Beamers mit Notebook, aber eine sehr interessante Anregung, um zu zeigen, dass sich seit Gründgens auf der Bühne verteufelt viel getan hat.

Viele Zuhörerinnen und Zuhörer interessieren sich für die Frage: „Wie präsent ist Goethe?“ (Foto: Johannes Krey | JKFotografie&TV)

Der Abend des Donnerstags bot ein weiteres, breit gestaffeltes Kulturprogramm: Museumsbesuche und vor allem ein akustisches Schmankerl. Unter dem Titel „Connais-tu le pays…“ hatten Liedklassen der Hochschule für Musik Franz Liszt Goethe-Übersetzungen und Vertonungen durch ausländische Komponisten einstudiert, um zu zeigen, dass jenseits der deutschen Musikromantik andere historische Traditionen Goethes Werk zu neuen akustischen Eindrücken verhelfen können. Neben Schubert, Schumann und Brahms haben auch Verdi, Tschaikowsky, Bizet und andere Komponisten Goethe in Töne gesetzt und es war schon ein besonderes, vor allem wohl selten gebotenes Vergnügen, ihre Auffassungen vergleichen zu können.  

Die wissenschaftliche Konferenz stand wieder ganz im Zeichen des globalen Diskurses: „Goethe international. Seine Rezeption und Wirkung jenseits der deutschen Grenzen“. Wie im Fall der jungen Goethe-Forschung sind auch hier wieder die in Weimar verteilten Broschüren mit den Abstracts hilfreich, diesmal sogar in besonderem Maß, fanden doch die Arbeitsgruppen zum Teil gleichzeitig statt. Spannend ist immer wieder der der Eindruck „von außen“, etwa aus Cambridge, Wroclaw, Marsaille, Seoul oder Princeton auf Fragen deutscher Literatur, den Blick erweiterte auch, dass die Diskussionsleitung in allen Fällen den internationalen Rahmen der Debatte spiegelte. Etwa, wenn Joel B. Lande mit seinen Ausführungen über „Das Goethe-Jahr 1949. Umbruch und Kontinuität in der literarischen Überlieferung“ manches liebgewonnene Klischee deutscher Sicht irritierte und Paula Wojcik aus Wien dann für den Fortgang der Diskussion sorgte. Dank an alle Referenten und Referentinnen, die weite Reisen auf sich nahmen, auch wenn man nicht allen lauschen konnte. Schade! Leider lässt sich dieses Problem kaum lösen, will man die Tagung nicht ausdehnen.

Den Nachmittag des Freitags nahm dann die eigentliche Mitglieder-Versammlung in Anspruch. Die Berichte des Präsidenten, des Schatzmeisters und über die Kooperation mit der Klassik-Stiftung zeigten einmal mehr, dass die Gesellschaft auf einem guten Weg ist trotz der Corona-Pause. Da es an der Vereinsführung und der Kasse nichts auszusetzen gab, konnte der Vorstand entlastet werden.

Es zeigte sich aber eben auch, dass wir dringend um eine stärkere Präsentation in der Öffentlichkeit sowie auch um mehr, jüngere und engagiertere Mitglieder bemüht sein müssen. Deshalb werden und sollten wir uns als Netzwerk literarisch-kultureller Art deutlicher präsentieren: als Verbund der Ortsvereinigungen hier und internationalen Goethe-Gesellschaften weltweit. Klar, in Weimar war die „Mutter“ lange Zeit, bis 1989, die einzige verbindende gesamtdeutsche Gemeinschaft dieser Art, und auch jetzt sollten wir diesen Zusammenhalt-stiftenden Charakter nicht vergessen. Dem Austausch und Dialog der Ortsvereinigungen während der Hauptversammlung auch wieder einen eigenen Zeitraum zuzubilligen, regten mehrere Vertreter von ihnen an.  

… und Dank

Konsequent war es also, dass verdiente Vorstände der Ortsvereinigungen wegen ihrer Leistungen bei der Gestaltung der Programme und offenbar erfolgreichen Organisation des Vereinslebens mit Ehrenmitgliedschaften gewürdigt wurden. Peter Krüger-Wensierski aus Köln, Burkhard Leimbach aus Nordenham und Beate Schubert aus Berlin haben über Jahre ihre Ortsvereinigungen in entscheidender Weise geprägt. In unterschiedlicher Weise haben sie das Leben ihrer Gesellschaften bereichert und vor allem: für Kontinuität und Fortsetzung gesorgt. In einer Zeit, in der Gesellschaften wie unsere mit schwindendem Interesse zu kämpfen haben, ist das von existenzieller Bedeutung. Ihre drei Ortsvereinigungen zählen zu den Mitglieder-stärksten in unserer Runde.

Außerdem standen wieder Vorstandswahlen an, dafür hatten der alte Vorstand und die Geschäftsstelle Vorbereitungen getroffen. Den Programmen war eine Vorschlagsliste beigelegt mit Kurz-Biografien. So konnten die Mitglieder sich im Vorab informieren und vor Ort Fragen stellen. Gewählt wurden oder durch die Wahl bestätigt: Herr Prof. Dr. Stefan Matuschek als Präsident, neu hinzu kam Frau Ass.-prof. Dr. habil. Paula Wojcik, vom neuen Vorstand wurde sie als Vize-Präsidentin gewählt, Herr Dr. Siegfried Jaschinski wird in bewährter Weise das Amt des Schatzmeisters weiterführen, außerdem wurden Herr Prof. Dr. Frieder von Ammon, Frau Prof. Dr. Anne Bohnenkamp-Renken, Herr Andreas Rumler, Frau Prof. Dr. Marisa Siguan und Herr Prof. Dr. Thorsten Valk erneut in ihren Ämtern bestätigt.

Ehrenpräsident der Goethe-Gesellschaft: Prof. Dr. Jochen Golz (Foto: Johannes Krey | JKFotografie&TV)

Weil er sich in besonderer Weise um die Entwicklung und den Erfolg der Goethe-Gesellschaft verdient gemacht hat, beschloss die Mitgliederversammlung, Herrn Professor Dr. Jochen Golz zum Ehrenpräsidenten zu ernennen. Wahrscheinlich dürften nur wenige Goethe-Freunde sich so gut in der Geschichte der Gesellschaft auch vor 1989 sowie der Entstehung und besonderen Qualitäten der Goethe-Ausgaben in beiden deutschen Staaten auskennen, hatte er doch Einblick in die Editionspraxis des Aufbau-Verlags und leitete über Jahre das Goethe- und Schiller-Archiv, bevor er sein Wissen und seinen Einsatz ganz der Gesellschaft widmete, auch als ein Herausgeber der Jahrbücher. Diese Kenntnisse brachte er auch immer wieder in die mit von ihm ins Leben gerufenen Goethe-Akademien ein. Seine Kenntnisse der Werke Goethes und seines Lebens, der allgemeinen Zeitumstände sowie der literarischen Tradition, in der dieses Werk entstand, machen diese Kompaktseminare immer wieder zu einem Bildungs-Erlebnis von ganz besonderem Niveau. Hinzu kommt seine gleichermaßen behutsame wie auch charmante Art, Teilnehmern gegenüber, die durch originelle, sehr eigene Kenntnisse zu glänzen meinen, realistischere und durch Fakten gedeckte Alternativen aufzuzeigen. Langanhaltender Beifall und Standing Ovations begleiteten diesen Akt gut begründeter Dankbarkeit. Des Öfteren schon, hört man, sei an ihn die Anregung herangetragen worden, als Goethes Stellvertreter auf Erden seine Erfahrungen aufzuzeichnen. Man darf gespannt sein.

In bunten Farben leuchtete der garten hinter Goethes Wohnhaus für die Besucherinnen und Besucher des „Geselligen Abends“ (Foto: Johannes Krey | JKFotografie&TV)

Als Gelegenheit zu geselligem Austausch erwies sich dann ab 20.00 Uhr der Club-Abend der Goethe-Gesellschaft im Hotel Dorint, ideal gelegen nahe der Ackerwand, man konnte vom reichhaltigen Büffet gleich hinüberwandeln in Goethes Garten, illuminiert war er, und dort in der milden Frühsommerluft die Gespräche fortsetzen. Geöffnet war ebenfalls das Museum, bis lange nach 24.00 Uhr dauerten die Plaudereien, auch in umliegenden Lokalen.

Komplett in China

Zum Ausklang kam man noch einmal zusammen im mon ami. „Wundersame Spiegelungen. Goethe-Übersetzer im Gesprach“ war eine Runde überschrieben, die Anne Bohnenkamp-Renken moderierte. Geladen waren die drei Preisträger der Goethe-Medaillen und berichteten konkret über Fragen ihrer Arbeit. Goethe selbst habe Übersetzungen als Bereicherung von Texten verstanden, führte Frau Bohnenkamp-Renken ein. Es handelt sich ja nicht nur um eine fast mechanische oder heute durch IT gestützte Übertragung. Übersetzungen legen Aspekte frei, eröffnen Sichtweisen, die zuvor nicht unbedingt im Blick lagen. Wie Goethe moderne Computer-Programme dazu beurteilt hätte, entzieht sich unserer Kenntnis. Bekannt ist, dass er der rasanten Entwicklung der Technik nicht unkritisch gegenüberstand. Über Frankreich hätten spanische Leser Goethe kennengelernt, erläuterte Frau Cortés Gabaudan aus Vigo den Weg, den seine Texte nahmen, durch die Vermittlung von Madame de Staël und ihr Werk „De l’Allemagne“. Goethe sei in Spanien zunächst als Romantiker wahrgenommen worden. Von seinen Texten wurde zuerst der „Faust I“ veröffentlicht, auch in Prosa und vereinfachter Sprache, um eigene, liberale Ideen zu propagieren.

Ungewöhnlich umfangreich ist das Unternehmen, dass Herr Wei aus Shanghai in die Wege geleitet hat. Gemeinsam mit 100 Kollegen will er Goethes gesamtes Werk übertragen. Als Grundlage dient ihm dazu die vollständige Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlages im Suhrkamp Verlag. Die Schwierigkeiten beginnen bereits damit, dass sich Namen wie etwa der von Werther oder Gretchen auf unterschiedliche Weise übertragen lassen. An Hand von Abbildungen zeigte er, welche Ausgaben es in China in den vergangenen Jahrzehnten bereits gab. Jetzt einen „kompletten Goethe“ herausbringen zu wollen, einschließlich der Briefe und wissenschaftlichen Schriften, ist eine ungeheuer ambitionierte Jahrhundertaufgabe, über deren Fortschritte wir in Weimar hoffentlich noch häufig mehr erfahren.

Goethe und Thomas Mann

Auch Brasilien erreichten Goethes Texte nicht direkt, sondern vermittelt über eine Übersetzung, in diesem Fall nicht über Madame de Staël, sondern eine anonym herausgegebene Werther-Übersetzung 1820 in Portugal, berichtete Marcus Mazzari aus Sao Paulo. Auch er hatte Studenten seiner Seminare mitgebracht. Anschaulich belegte deren Begeisterung für Goethe und sein Werk, wie sehr Marcus Mazzari ihnen dessen Bedeutung und Aktualität zu vermitteln vermochte. Wobei die jungen Leute sich bei ihrer Lektüre nicht nur auf Goethe beschränken, sondern sich auch dafür interessierten, wie der Klassiker von Thomas Mann rezipiert und produktiv wahrgenommen wurde, den „Zauberberg“, „Doktor Faustus“ und „Lotte in Weimar“ sprachen sie an.

Zu diesem Familienfest in Sachen Goethe waren auch wieder Vertreter zahlreicher Ortsvereinigungen angereist. Herr Professor Dr. Christoph Wingertszahn als Direktor des Düsseldorfer Goethe-Museums und der Kippenberg-Stiftung sowie Frau Professorin Dr. Anne Bohnenkamp-Renken als Direktorin des Freien Deutschen Hochstifts, des Goethe-Hauses und des neuen Romantik-Museums in Frankfurt dokumentierten, dass die Goethe-Familie ein zentral mit der Muttergesellschaft in Weimar beheimatetes Ensemble bildet, allerdings bundes- und weltweit vertreten ist und völkerverbindende Dialoge pflegt. Gerade in einer Zeit der Kriege und der Krisen ist dieses Forum in der Tradition von Goethes Vorstellung einer „Weltliteratur“ wichtig und hilfreich.


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