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Ein Blick aus Syrien auf Goethes „Märchen“
Bernd Kemter, der rührige und einfallsreiche Vorsitzende der Goethe-Gesellschaften in Erfurt und Gera, ist ein Mann von Umsicht und Tatkraft, originell in seiner Intention, einmal andere Wege zu Goethe zu beschreiten. Als er mir schrieb, dass er mit zwei in Syrien geborenen Schülern nach Weimar kommen wolle, die sich auf seine Anregung hin mit Goethes „Märchen“ beschäftigt hätten, war meine Neugierde geweckt. Schon einmal war er mit einer Gruppe aus Syrien stammender Flüchtlinge nach Weimar gekommen, wo dann vor der ehrfürchtigen Kulisse des Goethe- und Schiller-Archivs Goethe-Gedichte von Schülern vorgetragen worden waren.
Nun also Goethes „Märchen“, geschrieben nach den revolutionären Ereignissen in Frankreich, stets ein dankbares Objekt für Auslegungen der unterschiedlichsten Art, die schon den Autor zu einer eher skurril anmutenden Interpretations-Tabelle veranlasst hatten. Mit einiger Erwartung sah ich unserer Begegnung am 26. August entgegen. Im Weimarer Café am Markt saßen mir dann Heba Kablou, ein junges Mädchen, und Mohamad Kablou, ein junger Mann, gegenüber, zwei sympathische, gebildete junge Menschen, die im kommenden Jahr das Abitur ablegen werden und dann studieren wollen. Erstaunlich war nicht nur ihre Fertigkeit im Gespräch, erstaunlicher noch war das, was sie mir in Schriftform vorlegen konnten. Jeder hatte eine knappe Interpretation des „Märchens“ geschrieben – selbständig, wie sie mir versicherten –, dazu bestimmt, eine illustrierte Ausgabe des „Märchens“ zu begleiten, die Bernd Kemter veranstalten wird. Bei Tisch konnte ich auf beide Texte nur einen kurzen Blick werfen, versprach aber den jungen Autoren, mich mit Urteilen über ihre Texte einige Tage später zu melden. Dass beide das „Märchen“ besonders unter dem Aspekt von Goethes Erfahrung mit der Französischen Revolution betrachtet haben, verwundert nicht, teilen sie doch diese Sichtweise mit nicht wenigen Interpreten. Dass sie darüber hinaus auch einen Blick auf ästhetische Strukturen und Symbole geworfen haben, kann zusätzlich für sie einnehmen. Wenn man bedenkt, dass die beiden jungen Syrer erst seit fünf Jahren in Deutschland leben, kann man ihre Beherrschung der deutschen Sprache nur mit hoher Anerkennung bedenken. Wir wissen, dass Syrien vor seinem Niedergang und seiner Zerstörung ein Staat mit offensichtlich guten Bildungsmöglichkeiten und vor allem einer in zahlreichen Bauten dokumentierten jahrtausendealten Hochkultur war; ganz verschüttet ist Syriens große Vergangenheit glücklicherweise nicht. Ein Abglanz dieser Tradition spiegelt sich noch im Bildungswillen der beiden begabten syrischen Schüler wider.
Mit seinem Editionsprojekt und der Einbeziehung der beiden jungen Syrer will Bernd Kemter ein Zeichen der Hoffnung setzen. Das ist wichtig in Zeiten, wo uns das Elend in griechischen Flüchtlingslagern neuerlich die Dringlichkeit einer humanen politischen Lösung für die dort buchstäblich nur existierenden Menschen ins Bewusstsein ruft. Ebenso hoffnungsstiftend ist es, wenn die Goethe-Gesellschaft, wie jüngst geschehen, ein Brief aus dem Libanon erreicht, wo ein dort lebender Germanist eine Vereinigung von Goethe-Freunden ins Leben rufen will. In Deutschland können Persönlichkeiten wie Bernd Kemter leichter Gutes stiften, im Libanon ist derlei Unterstützung von Deutschland aus ungleich schwieriger. Gleichwohl ist auch der Brief aus dem Libanon ein zaghaftes Zeichen der Hoffnung.
Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 4/2020.