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Die Goethe-Gesellschaft Schweiz
Vor einigen Jahren durfte ich im Newsletter schon einmal Einblick in die Geschichte und das Vereinsleben der Goethe-Gesellschaft Schweiz geben. Diesmal soll vor allem das seither Unternommene im Mittelpunkt stehen. Doch 2020 ist auch für uns ein Jahr, in dem Vieles anders ist: Veranstaltungen mussten abgesagt werden, und für den Rest des Jahres lässt sich noch nichts Sicheres planen. So ist die Gegenwart von Hoffen und Bangen bestimmt – halten wir uns also an Vergangenheit und Zukunft.
Zurzeit kann die Goethe-Gesellschaft Schweiz (GGS) auf 23 Jahre ihres Bestehens zurückblicken, und ich selbst auf 18 Jahre der Präsidentschaft. Zwar gab es vor Jahrzehnten schon einmal eine schweizerische Goethe-Gesellschaft, doch hat sich diese wieder aufgelöst. In den 1990er Jahren nahmen neue Kräfte die Idee wieder auf: 1997 kam es zur Gründung der jetzigen Goethe-Gesellschaft Schweiz. Der entscheidende Anstoß kam von unserem – leider 2006 verstorbenen – Ehrenmitglied Dr. René-Jacques Baerlocher aus Basel, der auch einige Jahre im Vorstand der Goethe-Gesellschaft in Weimar tätig war. Michael Böhler, jetzt emeritierter Professor der Universität Zürich, nahm seine Idee auf und warb bei Lehrpersonen und im Kreis der universitären Germanistik sehr aktiv für den neuen Verein. Er hat damit unseren Mitgliederstamm begründet. Die Gründungspräsidentin Henriette Herwig, jetzt Ordinaria an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf, und Medizinprofessor Frank Nager – auch er ist leider mittlerweile verstorben – haben weitere Mitglieder geworben. Erfreulicherweise sind uns viele davon bis heute treu geblieben. Die Gründungsversammlung fand am 5. Februar 1997 im Haus Johann Jakob Bodmers statt, das heute der Universität Zürich gehört und die Erinnerung an die Besuche Goethes bei ihm und die Aufenthalte Klopstocks und Wielands in Zürich wachhält.
Mit der Wahl des Gründungsortes war zugleich ein historischer und thematischer Bezugspunkt unserer Gesellschaft markiert. Die meisten der damals beteiligten Germanistinnen und Germanisten waren bei Emil Staiger ausgebildet worden, der von 1935 bis 1976 an der Universität Zürich lehrte. Sein klassisches Goethe-Bild hat Generationen von Studierenden geprägt oder zumindest beeinflusst – im Positiven wie im Negativen. Im sog. Zürcher Literaturstreit hatte er sich in den 1966er Jahren in eine polemische Auseinandersetzung mit der modernen Literatur verstrickt, was seinen Nachruhm etwas verdunkelte. Der neue Verein wollte sich deshalb bewusst in kritischem Abstand zu einer rückwärtsgewandten Goetheverehrung positionieren. Laut Statuten soll er „ein Forum bieten für eine offene und gegenwartsbezogene Auseinandersetzung mit dem Werk Goethes und seiner Person“. Ein weiteres Ziel ist, die zu Goethe arbeitenden Personen und Gruppen in den verschiedenen Landesteilen zu vernetzen.
Trotz einer gewissen Dominanz der ‚Goethestadt‘ Zürich hat die GGS hier keinen offiziellen Sitz. Unsere Mitglieder sind über die ganze Schweiz verteilt – von Basel bis ins Engadin und von Genf bis St. Gallen. Die zurzeit sieben Vorstandsmitglieder leben in Bern, Basel, Genf und Zürich. Wegen dieser dezentralen Struktur organisiert die GGS keine Einzelvorträge; sie führt stattdessen meist einmal im Jahr an wechselnden Orten eine Tagung zu einem Goethe-Thema durch, in der Regel mit einer lokalen Partnerorganisation. Oft sind das die Deutschen Seminare der Schweizer Universitäten. Doch auch Literaturhäuser, Bibliotheken, Museen und sogar das Kantonsspital Luzern dienten schon als Tagungsorte. Zu diesen Veranstaltungen werden themenbezogen meist auch Gastreferenten aus anderen Ländern eingeladen. Ein besonderes Anliegen unserer Gesellschaft ist es, Goethes vielfältige Arbeitsgebiete und seine über die Literatur hinausgehenden Interessen zu berücksichtigen.
Während sich diese Veranstaltungen räumlich im Kreis der Schweizer Germanistik bewegen, ist der ‚Output‘ unserer Gesellschaft durchaus international wahrnehmbar. Die GGS verzichtet auf Jahresgaben und eine eigene Publikationsreihe, doch können wir bereits auf eine stattliche Zahl an Tagungsbänden zurückblicken, die meist bei renommierten Verlagen erschienen sind: Von der Pansophie zur Weltweisheit, Goethe und die Bibel, Figurationen des Grotesken in Goethes Werken, „Ein Unendliches in Bewegung“. Künste und Wissenschaften im medialen Wechselspiel bei Goethe und zuletzt (2016) Goethe als Literatur-Figur. Noch dieses Jahr soll ein neues ‚Kind‘ dazukommen. Denn vor kurzem haben wir einen sehr aktuellen Themenkreis angeschnitten: Goethe medial. Der erste Teil der in Kooperation mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach durchgeführten Doppel-Tagung zu Goethe und den Medien fand im November 2018 an der Universität Zürich statt, der zweite Teil im Mai 2019 in Marbach. Die Beiträge beider Veranstaltungen sollen im Verlag De Gruyter publiziert werden.
Im Frühjahr 2017 konnten wir ein rundes Jubiläum begehen: 20 Jahre Goethe-Gesellschaft Schweiz. Zu diesem Anlass erhielten wir Gastrecht in der Fondation Bodmer in Cologny bei Genf, einer Institution, die auf die umfangreiche Sammlung des Zürcher Mäzens Martin Bodmer (1899–1971) zurückgeht. Seine „Bibliothek der Weltliteratur“ umfasst kostbare Manuskripte von der Bibel bis zur Moderne. Goethe bildet einen Schwerpunkt der Sammlung, mit zahlreichen Erstdrucken und Handschriften, etwa zu Faust II. Der jetzige Direktor der Bodmeriana, Prof. Jacques Berchtold, möchte die Kostbarkeiten dieser Sammlung im Genfer ‚Exil‘ im deutschen Sprachraum wieder bekannter machen. Das Jubiläumsprogramm der GGS umfasste einen Rundgang durch die Ausstellung „Goethe et la France“ und ein kleines Symposium – wobei auch Prof. Dr. Jochen Golz, der damalige Präsident und jetzige Vizepräsident der Goethe-Gesellschaft in Weimar, uns mit seiner Anwesenheit ehrte und erfreute.
Dieses Jubiläum war Anlass zu Stolz über das Erreichte, doch stellte es auch die Frage nach der Zukunft. Der Mitgliederbestand unseres Vereins hat sich über längere Zeit bei 100 bis 120 Personen bewegt – die Gesellschaften zu Gottfried Keller oder Robert Walser umfassen ein Vielfaches davon. Wie kommt das? Nun, die Beschäftigung mit Goethe hat selbst in den literarisch interessierten Kreisen der Schweiz keine Priorität – unser Ehrenmitglied Adolf Muschg bildet da eine rühmliche Ausnahme. Man beruft sich hierzulande in Abgrenzung zum „großen Kanton“ im Norden gern aufs Eigene. So sind es oft deutsch-schweizerische Doppelbürger, die bei uns mehr über ‚ihren‘ Goethe erfahren möchten. Altershalber nimmt unser Mitgliederbestand aber nun seit einigen Jahren ab, und ein Generationenwechsel ist nicht in Sicht. Glücklicherweise finden sich an den acht Schweizer Universitäten mit literaturwissenschaftlichen Studiengängen jedoch immer wieder einzelne Studierende, die bereit sind, in den Kosmos ‚Goethe‘ einzutauchen.
Neben den Tagungen, bei denen versucht wird, außer dem akademischen Publikum auch eine interessierte Öffentlichkeit zu erreichen, wird für die Mitglieder und ihre Angehörigen jeweils im Sommer ein Tagesausflug auf Goethes Spuren organisiert. Die Schweizer Reisen Goethes bieten zahlreiche Anregungen für Wanderungen und Besichtigungen – vom Rheinfall über das Berner Oberland bis zur Via Mala. Einige Exkursionen führten auch ins grenznahe Ausland: So nach Emmendingen, wo Goethes Schwester lebte, und in Angelika Kauffmanns Heimat Schwarzenberg im Bregenzerwald. Mit der Ortsvereinigung Ravensburg kam es zu einem grenzüberschreitenden Austausch: 2015 reisten Goethefreunde aus Ravensburg nach Zürich zu einem Stadtbummel auf Goethes Spuren. Im Jahr darauf führte uns der Vorsitzende der Ortsvereinigung, Dr. Franz Schwarzbauer, durch seinen ehemaligen Studienort Konstanz.
Goethes Werk steht bei uns klar im Fokus, doch bieten besondere Anlässe auch Gelegenheit, mit ihm verbundene Zeitgenossen zu beleuchten. Beliebt sind Besuche von Ausstellungen, wo jeweils eine Führung mit beteiligten Kulturschaffenden organisiert wird. So trafen wir uns im Sommer 2017 zur Sonderausstellung über den Berner Maler Franz Niklaus König (1765–1832) im Kunsthaus Interlaken. Mit seinen Transparentgemälden von Schweizer Landschaften, die von Lampen hinterleuchtet wurden, ging König 1820 auf Deutschlandtournee und gab sogar eine Privatvorführung in Goethes Haus. Im Juli 2019 widmeten wir uns den Natur- und Kunstgenüssen in der Innerschweiz: Den Besuch der international beachteten Ausstellung zu William Turners Schweizer Reisen im Kunsthaus Luzern verbanden wir mit einer Schifffahrt nach Küssnacht am Rigi.
Goethe-Schwerpunkte haben uns in kleinerer Gruppe auch zu deutschen Kulturereignissen gezogen. 2018 besuchten wir in München das große Faust-Festival, das zahlreiche Programmpunkte rund um die Ausstellung in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung bot. 2019 konnten wir bei einem Ausflug nach Frankfurt die Ausstellung zum West-östlichen Divanim Goethe-Museum kennenlernen und (als temporär beigetretene Mitglieder des Freien Deutschen Hochstifts) an der Feier zu Goethes Geburtstag teilnehmen – eine besondere Beziehung zu Goethes Geburtsstadt besteht auch durch die langjährige Mitgliedschaft der Museumsleiterin, Frau Prof. Dr. Anne Bohnenkamp-Renken, in der GGS. Die dreitägige Reise umfasste auch die Besichtigung der Ausstellung „Goethe – Verwandlung der Welt“ in der Bundeskunsthalle Bonn und einen Besuch auf dem historischen Anwesen der Familie Brentano in Oestrich-Winkel.
Das jeweils im Frühling erscheinende Mitteilungsblatt der Gesellschaft enthält neben den Vereinsnachrichten mit Vorschau und Rückblick die von Dr. Fritz Egli betreute Rubrik „Mitteilungen über Goethe“; er stellt darin ausgewählte Aspekte von Goethes Leben und Beziehungen leicht lesbar, aber mit fundierten Kenntnissen und Quellenangaben vor. Für die „Goethevignette“ laden wir jeweils eine Germanistin oder einen Germanisten ein, einen Goethe oder sein Werk betreffenden Gedanken auf wenig Raum zu vertiefen. Das Mitteilungsblatt schließt mit einer Liste aktueller vereinseigener Publikationen sowie Einzelaufsätzen von Vereinsmitgliedern in Sammelbänden und germanistischen Zeitschriften.Zuletzt ein Ausblick in die hoffentlich coronafreie Zukunft: Im Herzen der Schweiz, auf dem Gotthardpass, soll 2022 eine Dauerausstellung zu Goethes Schweizer Reisen entstehen. Die 1941–1945 erbauten riesigen Kavernen im Gotthardgranit sind heute als Museum „Sasso San Gottardo“ zugänglich. Sie sollen nun neben ihrem ursprünglichen Zweck, der militärischen Verteidigung gegen fremde Invasoren, auch die kulturhistorische Bedeutung dieser alten Nord-Süd-Verbindung sichtbar machen. Goethes Schweizer Reisen und seine drei Aufenthalte auf dem Pass stehen geographisch wie zeitlich an einem Brennpunkt der touristischen Entwicklung unseres Landes. Als Vertreterin der GGS werde ich kuratorisch an der Ausstellung mitarbeiten, an der auch die Klassik Stiftung Weimar beteiligt ist. Wir hoffen, mit einem attraktiven Angebot auch neue Kreise für Goethe zu interessieren, etwa Reisende, die sich auf der Passhöhe vor der Weiterfahrt nach Süden nur ein wenig die Beine vertreten wollen – in der sechsmonatigen Saison fahren mehr als eine Million Personen über den Gotthardpass. Die Eröffnung der Ausstellung ist für Juni 2022 vorgesehen. Dannzumal sind nicht nur 225 Jahre seit Goethes dritter Schweizer Reise vergangen, es wird auch das 25-Jahr-Jubiläum der GGS zu begehen sein – es sind also mehrere Gründe zum Feiern in Sicht!
Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 3/2020.