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Willkommen in Kutaissi. Zum jüngsten Studienband aus einer georgischen Universität
„Wahrlich, wir leben in finsteren Zeiten“, diese Wendung Brechts hat in unseren Tagen eine neue, bedrückende Aktualität erhalten. Noch vor wenigen Monaten waren uns Ortsnamen wie Charkiv, Cherson oder Mariupol nahezu unbekannt; mittlerweile wissen wir – als Zeitzeugen in das Kriegsgeschehen in der Ukraine einbezogen –, dass dort und an vielen anderen Orten auch für unsere geistige und physische Unabhängigkeit gekämpft wird. Nicht nur die Ukraine ist in ihrer Existenz bedroht. In Gesprächen mit georgischen Stipendiatinnen, die vor wenigen Wochen unsere Gäste waren, habe ich die Angst in ihrem Heimatland vor einem russischen Überfall wahrgenommen, gibt es doch Ereignisse der jüngsten Geschichte, die einen solchen Überfall wahrscheinlich werden lassen. Abchasien oder das Gebiet von Luhansk, beide Territorien können Putin als Vorwand dienen – im zweiten Falle ist es geschehen –, die dort lebenden Russen zu ‚befreien‘.
Wie ein Hoffnungszeichen erscheint es darum, wenn aus dem fernen und zugleich so nahen georgischen Kutaissi ein Studienband zu uns gelangt, in dem Wissenschaftler dieser dort beheimateten traditionsreichen Universität Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Arbeit präsentieren. Es ist eine Publikation der Ortsvereinigung Kutaissi der Goethe-Gesellschaft in Weimar, mittlerweile der 14. Band. Wie in den vorangegangenen Bänden auch, legen die Beiträge ein beeindruckendes Zeugnis ab vom Stand der Geisteswissenschaften an der Universität von Kutaissi. Seit langem sind wir mit ihr verbunden, empfangen immer wieder Stipendiatinnen, die, ausgerüstet mit sehr guten Deutschkenntnissen, in Weimar an Examensarbeiten oder Dissertationen arbeiten; Spiritus Rector ist stets Frau Professor Kakauridze, die in ihrer Persönlichkeit wissenschaftliches Problembewusstsein mit pädagogischer Fürsorge verbindet. Selbst ist sie im Band mit einer schönen Studie über „Remythisierung in der Literatur“ im Werk von Thomas Mann vertreten; ihre Beispiele hat sie vor allem seiner Rede über „Leiden und Größe Richard Wagners“ entnommen, die dieser, so etwas hat es gegeben, 1933 auf Veranlassung der Goethe-Gesellschaft in München gehalten hat. Für uns ist es eine besondere Freude, wahrnehmen zu können, dass die Aufenthalte von Stipendiatinnen in Weimar messbare wissenschaftliche Ergebnisse hervorbringen. Natia Choladze beschäftigt sich mit der Schlussszene von Thomas Manns „Zauberberg“ und kann nachweisen, dass sie, korrespondierend mit der kompositorischen Struktur des Romans, den Charakter einer „musikalischen Coda“ besitzt. Anna Khukhua analysiert Thomas Manns „Lotte in Weimar“, einer Charakteristik des Autors folgend, als „intellektuellen Roman“, und Tamari Napetvaridze widmet sich der Funktion der Utopie in Hesses „Glasperlenspiel“ als, so Hesse selbst, „Panzer gegen die häßliche Zeit“ (S. 113). All diese Beiträge markieren Stationen einer hoffnungsvollen wissenschaftlichen Entwicklung, die auch zu erfolgreichen Abschlüssen führen werden oder schon geführt haben.
Das Deutschland der Weimarer Republik war der erste Staat, der das unabhängige Georgien nach dem Ersten Weltkrieg anerkannt hat; hinter dem kaukasischen Land lagen 117 Jahre russischer Besetzung. Auf die Vorgeschichte dieser politischen Entscheidung wird von Luka Dvalishvili aufmerksam gemacht, wenn Baron Friedrich Freiherr Kreß von Kressenstein vorgestellt wird, der als Militär und Leiter einer zivilen ‚Mission‘ im Dienst Kaiser Wilhelms II. in wenigen Monaten nur die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung Georgiens gefördert und dazu beigetragen hat, dass sich Georgien aller Eroberungsgelüste des (mit Deutschland militärisch verbündeten) Osmanischen Reiches erwehren und im Inneren stabilisieren konnte.
Germanistik im Ausland heißt immer, sich in besonderem Maße sprachwissenschaftlicher Themen und insbesondere auch den Beziehungen zwischen dem Deutschen und dem Georgischen zu widmen; aus der engen Zusammenarbeit zwischen den Universitäten von Kutaissi und Jena ist z. B. ein „Deutsch-georgisches Wörterbuch der nicht flektierbaren Wörter“ entstanden, das 2018 in Kutaissi veröffentlicht worden ist. Die hier vorliegenden Studien zeichnet aus, dass sie ihr Vergleichsmaterial dem gegenwärtigen Deutsch entnehmen, wie es in den Medien vorkommt, und zugleich den aktuellen internationalen Forschungsstand reflektieren. Mittelbar wird damit auch Übersetzungsproblemen zugearbeitet, ist und bleibt das Übersetzen doch, wie Goethe in seinem Brief an Carlyle vom 20. Juli 1827 anmerkte, „eins der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltwesen“.
2018 rückte Georgien stärker ins Licht der internationalen Aufmerksamkeit, als es sich auf der Frankfurter Buchmesse als Gastland präsentieren konnte. Als wichtigen Beitrag zum kulturellen Verständnis Georgiens in Deutschland stellt Nugesha Gagnidze eine von Adolf Endler herausgegebene Anthologie vor, die unter dem Titel „Georgische Poesie aus acht Jahrhunderten, nachgedichtet von Adolf Endler und Rainer Kirsch“ in erster Auflage 1971 im Verlag Volk und Welt erschienen ist. Endler hat zusammen mit Rainer Kirsch Georgien besucht und dort etwas gefunden, was Gagnidze die Synthese von Orient und Okzident nennt. Endler und Kirsch waren nicht die einzigen DDR-Autoren, die Georgien besucht haben. Lohnend wäre es, auch andere Autoren – von Christa Wolf bis Benno Pludra – in eine vergleichende Betrachtung einzubeziehen. Mangels anderer Reisemöglichkeiten konnte Georgien einem DDR-Autor in der Tat als reizvoll-exotische Alternative zum grauen DDR-Alltag erscheinen.
Doch es gibt in der Gegenwart auch den Blick von Autoren aus georgischer Perspektive auf Deutschland oder die westlichen Demokratien überhaupt. Im vorliegenden Band beschäftigt sich Natia Nassaridse mit dem ersten Roman von Nino Haratischwili, die sich inzwischen als Dramatikerin und Romanautorin vor allem in Deutschland einen ausgezeichneten Ruf erworben hat. Probleme der Erzählspezifik und des fiktiven Erzählers werden hier verhandelt – Symptom einer postmodernen narrativen Technik, gleichermaßen aber Ausdruck einer modernen, alle geographischen Grenzen überwindenden individuellen Ästhetik, mit einem Wort: als Beitrag zur modernen Weltliteratur. Wenn die Autorin mit dem Satz „Ich glaube, Geschichten sind wie Kleider, die wir an- und ausziehen können“ (S. 123) zitiert wird, so kommt einem eine Bemerkung von Max Frisch aus seinem „Gantenbein“ in den Sinn.
Es spricht für den weiten Horizont der Geisteswissenschaften in Kutaissi, dass auch Nachbardisziplinen eine Stimme gegeben wird. Ein Beitrag zur poetischen Gliederung von T. S. Eliots „Quartetten“ fehlt ebenso wenig wie eine Untersuchung des Deutschlandaufenthalts des prominentesten georgischen Komponisten Gija Kantscheli. Dass sich offenbar abseits des zu Sowjetzeiten von Moskau aus determinierten philosophischen Diskurses bereits damals ein eigenständiges philosophisches Denken Bahn gebrochen hatte, vermag der Text von Badri Portschchidze mit dem Titel „Unpersönlicher Sinnverstand in Bezug auf die immanente Weltordnung nach der deutschen und georgischen Philosophie“ zu dokumentieren. Herauszuheben ist insgesamt, dass alle Beiträge auf Deutsch vorliegen, größtenteils auf Deutsch geschrieben, in einigen Fällen ins Deutsche übersetzt wurden. Ein Wunsch sei noch hinzugefügt, der nämlich nach einer kurzen biographischen Vorstellung der Autorinnen und Autoren am Schluss kommender Bände.
Gerahmt wird der Band von sprachwissenschaftlichen Studien, die sich eingangs den höflichen Umgangsformen in der mündlichen Kommunikation widmen – in Georgien, so kann man lesen, wird mehr gesiezt als in Deutschland – und abschließend ein ganz aktuelles Problem aufgreifen, die Corona-Pandemie und ihre lexikographischen und korpuslinguistischen Aspekte. Hier ist der Text wirklich am Puls der Zeit. Den abschließenden Satz, den letzten des Bandes überhaupt, können wir – über den linguistischen Kontext hinaus – guten Gewissens unterschreiben: „Je schneller die überwiegende Mehrheit solidarisch reagiert, desto besser könnte die Gesellschaft den heutigen komplexen Herausforderungen gerecht werden, die beängstigende, unsicherheitsbeladene Situation überwinden und zum gewohnten Alltag zurückkehren.“ (S. 183)
Ortsvereinigung Kutaissi der Internationalen Goethe-Gesellschaft in Weimar e. V.
Goethe-Tage 2021
Band 14
Hrsg. von Nanuli Kakauridze und Maxi Bornmann
Kutaissi 2021
ISBN: 978-9941-495-47-2