Blog

Feature

Goethe, einmal anders betrachtet

von Jochen Golz

Zuweilen geht die Goethe-Verehrung Wege, die sich von den in der Goethe-Gesellschaft begangenen unterscheiden können. Es ist kein Geheimnis, dass der Vorstand der Goethe-Gesellschaft und die Herausgeber des Goethe-Jahrbuchs – darin der Forschung insgesamt folgend – den seltsamen Phantasien des Ettore Ghibellino keinen wissenschaftlichen Wert zuerkennen konnten. Ghibellino selbst sah das natürlich ganz anders, gab seine abstrusen Spekulationen für den Beginn einer neuen Forschungsrichtung aus und suchte zunächst mit gewissem Erfolg einen Kreis von Anhängern um sich zu sammeln. Mittlerweile aber hat sich dieser Kreis von seinem Gründer abgekehrt, auch seine Zusammensetzung hat sich geändert; er möchte aber in Gestalt eines eigenständigen Arbeitskreises „Goethe und Anna Amalia“ an der auf Ghibellino zurückgehenden Intention festhalten, einen anderen Zugang zu Goethe zu eröffnen, und insbesondere den Zusammenhang von Dichterbiographie und künstlerischem Werk in den Mittelpunkt rücken.

Die Seele dieses Arbeitskreises, eines freiwilligen Zusammenschlusses wirklicher Goethe-Freunde ohne Vereinsstatus, ist die Hamburger Ärztin Dr. Elisabeth Warken. Ihr beispielhaftes Engagement sorgt für sein Weiterbestehen. Ihr Handeln ist umso höher zu bewerten, als der Arbeitskreis aufgrund seiner lockeren Zusammensetzung keinen Anspruch auf öffentliche Förderung erheben kann. Elisabeth Warken war es auch, die im vergangenen Jahr eine wissenschaftliche Tagung des Arbeitskreises in München organisierte. Als mich der Marburger Emeritus Wilhelm Solms zu dieser Tagung einlud, habe ich, offen gesprochen, einen Moment gezögert. Die Gefahr, mich in konfrontative Debatten zu begeben, stand mir zu deutlich vor Augen; Ghibellino, das machte die Entscheidung leichter, hatte sich aber schon vom Arbeitskreis zurückgezogen. Am Ende bin ich nach München gefahren, denn es ist immer besser, miteinander zu reden, als sich schweigend oder in unfruchtbarer Polemik gegenüberzustehen. Mit Wilhelm Solms habe ich dort ein gutes kollegiales Einvernehmen erneuern können. Es war ein glücklicher Umstand, dass die Münchner Goethe-Gesellschaft die Veranstaltung auch zu ihrer Sache erklärt hatte; ihr Vorsitzender Prof. Selbmann hat die Tagung klug und umsichtig moderiert. Der Marburger Germanist Thomas Anz hat die in München gehaltenen Vorträge in seinem Verlag veröffentlicht; Näheres dazu im Rezensionsteil dieses Newsletters.

Bereits in München war die nächste Tagung für Hamburg verabredet worden, deren Vorbereitung wiederum in den Händen von Elisabeth Warken lag. Ihr war es gelungen, für den 1. Februar 2020 – glücklicherweise noch vor Corona – als Tagungsort das Elsa Brändström Haus – auf einem Hügel unmittelbar über der Elbe gelegen, einst eine Villa des Hauses Warburg – zu gewinnen und auch dank ihrer intensiven Werbung ein interessiertes Publikum herbeizulocken, das den Vorträgen zum Thema „Goethes ‚Geheimnis‘ in seinem ersten Weimarer Jahrzehnt“ aufmerksam und diskussionsbereit folgte. Mit einem Vortrag „Goethes Weg nach Weimar im Spiegel seiner Lyrik“ machte ich den Anfang, danach sprach der Kieler Psychoanalytiker Prof. Hubert Speidel über „Die Rolle Charlotte von Steins in der Literatur“; den Vormittag beschloss der Heidelberger Psychologe Prof. Holm-Hadulla mit Ausführungen über „Kreativität und Leidenschaft in Goethes Frauenbeziehungen“, die er unter die „Divan“-Zeile „Daß ich eins und doppelt bin“ stellte. Mit dem Thema „Biographie und Werk“ befasste sich der Salzwedeler Anwalt Veit Noll in seinem Vortrag „Nur ein ‚kleines Tröpfchen Leben‘ in Goethes Dichtung?“, in dem es um die Beziehungen von Leben und Werk im „Tasso“ ging. Als letzter sprach Wilhelm Solms über „‘Iphigenie‘, ‚Torquato Tasso‘ und Weimar“.

Für einen attraktiven künstlerischen Abschluss hatte Elisabeth Warken ebenfalls gesorgt. Ein kleines Ensemble um ihre Tochter Katharina, Sängerin an der Hamburgischen Staatsoper, bot eine klug zusammengestellte ‚Kammer-Version‘ von Anna Amalias Singspiel „Erwin und Elmire“. In geselliger Runde fand der Tag im Weinkeller des Hauses seinen harmonischen Abschluss.Der Reiz einer solchen Tagung liegt nicht zuletzt darin, dass sich Fachleute unter Beteiligung eines interessierten, aber nicht unbedingt fachlich spezialisierten Publikums austauschen können – eine Situation, die der Atmosphäre in der Goethe-Gesellschaft vergleichbar ist. Ganz gewiss, das wurde mir in Pausengesprächen deutlich, spukten in manchen Köpfen noch Thesen Ghibellinos, doch diese werden nicht mehr lautstark vorgetragen. Wie in der Goethe-Gesellschaft auch kann Harmonie um jeden Preis nicht das Ziel einer Tagung sein. Vielmehr soll so etwas wie historische Wahrheit in Spruch und Widerspruch zutage treten. Insbesondere der Vortrag von Veit Noll fand bei Solms, Holm-Hadulla und auch bei mir ein sehr kritisches Echo, während die drei eben Genannten sich in vielen Fragen einig wussten. Ob aus den Vorträgen wieder ein Büchlein entstehen kann, ist zur Stunde noch nicht entschieden. Einen Termin für die nächste Tagung gibt es aber schon. Sie soll am 6. Februar 2021 wieder an gleicher Stelle in Hamburg stattfinden.

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 2/2020.


Schlagwörter