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Strategische Feindschaft oder Mentalitätsgeschichte – W. Daniel Wilson präsentiert sein Buch „Goethe und die Juden“ in Weimar

von Hannes Höfer

Im Bücherkubus des Studienzentrums der Herzogin Anna Amalia Bibliothek stellte W. Daniel Wilson sein neues Buch vor und das Weimarer Publikum kam in großer Zahl. „Goethe und die Juden. Faszination und Feindschaft“ heißt das Werk und Reinhard Laube, als Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek sowohl Hausherr als auch Gastgeber des Abends, verwies gleich zu Beginn darauf, wie lohnend die Lektüre dieses Buches sei: Denn es lasse einen – wie jedes große Buch – nicht mit beruhigenden Antworten zurück, sondern mit noch mehr Fragen, Anregungen und Unsicherheiten.

W. Daniel Wilson nahm sich etwas Zeit, über die Entstehung des Buches zu reden: Schon bei seiner Arbeit an „Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar“, 1999 erschienen, stieß er auf das Thema, das ihn seitdem beschäftigte. Seine Befürchtungen, dass er etwas schreiben könne, das Antisemiten zur Instrumentalisierung Goethes für ihre Ansichten nutzen könnten, ließen sich durch ermunternde Worte seiner Kolleginnen und Kollegen nehmen – nicht durch seinen Befund: Goethe stand den jüdischen Emanzipationsbestrebungen seiner Zeit ablehnend gegenüber, für ihn sollten Juden erst konvertieren und sich assimilieren, bevor sich eine Gleichstellung auch rechtlich etablieren ließe. Seine Einstellung zu Juden war von zeittypischen Stereotypen geprägt, mit denen Juden schnell als „Schacherjuden“ und Wucherer klassifiziert wurden. Wilson schließt daraus, dass Goethe Juden gegenüber feindlich eingestellt war. Zudem kann er zeigen, dass Goethe hämische Kommentare gegenüber Juden meist in privaten Briefen äußerte, in offiziellen und öffentlich wirksamen Texten finden sich kaum kritisierende Einlassungen zu Juden oder dem Judentum. Vielmehr zeigen die Passagen über das Frankfurter Judenviertel in „Dichtung und Wahrheit“ ein großes Interesse an der jüdischen Religion und eine Offenheit gegenüber dem jüdischen Leben. Wilson liest die Passage als Selbststilisierung und sieht hierin eine Strategie Goethes, seine Judenfeindschaft im Privaten zu verbergen und in der Öffentlichkeit als der Humanist und Klassiker aufzutreten, als der er wahrgenommen werden wollte.

Leserinnen und Lesern des Goethe-Jahrbuchs konnte diese Sichtweise bereits bekannt sein, im Jahrbuch 2021 hatte Wilson präsentiert, dass Goethe die Berufung des Judenfeindes Jacob Friedrich Fries an die Universität Jena guthieß. Diese Episode findet sich auch im nun vorliegenden Buch, zusammen mit wohl allen auffindbaren Äußerungen Goethes über Juden, die in der Forschung bereits bekannt sind, jedoch bisher nicht so vollständig und ausführlich versammelt waren.

Wilsons Deutung, dass Goethe ein Judenfeind sei, der seine Feindschaft nur privat äußerte und ansonsten strategisch zu verschleiern versuchte, fand das neugierige Interesse des Publikums – und einigen Widerspruch. Diesen fasste Reinhard Laube am Ende der Diskussion dahingehend zusammen, dass man die aus den Textpassagen rekonstruierte Haltung Goethes zu Juden nicht unbedingt als strategische Feindschaft bezeichnen könne, unter anderem weil ihr das Moment aktiven Gestaltens fehle. Vielmehr reihe sich Goethes Haltung als eher gewöhnliche ein in die Mentalitätsgeschichte des Umgangs mit Juden und der Frage nach der jüdischen Emanzipation in Deutschland in der Zeit rund um die Französische Revolution bis in die Phase nach dem Wiener Kongress. Wilson selbst hatte in seiner Einführung darauf hingewiesen, dass es ihm ausschließlich um die Person Goethes gehe und man sein Buch in Kombination mit „Goethe und das Judentum“ von Karin Lynn Schutjer lesen solle, wenn man mehr über Goethes Umgang mit jüdischer Tradition und jüdischen Texten – vor allem der hebräischen Bibel – erfahren wolle.

Wenn Wilsons Buch nun – wie in Weimar geschehen – einen aktuellen Anlass liefert, nicht nur darüber nachzudenken, wie judenfeindlich Brief-Äußerungen von Goethe zu werten sind, sondern dass judenfeindliches und antisemitisches Denken auch in einer Epoche der deutschen Geschichte, die gewöhnlich mit Begriffen wie ‚Aufklärung‘, ‚Humanismus‘ und ‚Emanzipation‘ gefasst wird, zum gesellschaftlichen common sense gehörte, ist das eine große Leistung.


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