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Goethe-Tage 2023 in Kutaissi

von Jochen Golz

Es gehört zu den schönen und bewahrenswerten Traditionen der Goethe-Gesellschaft, dass zwischen Weimar und der georgischen Universität Kutaissi in mannigfacher Hinsicht ein intensiver Austausch besteht. Regelmäßig halten sich jüngere Wissenschaftler als Stipendiaten in Weimar auf, und ebenso regelmäßig werden uns Bücher zugesandt, die von der wissenschaftlichen Arbeit an der dortigen Universität Zeugnis ablegen. Seit vielen Jahren finden an der Akaki-Zereteli Universität, die ihren Namen einem georgischen Dichter verdankt, Goethe-Tage statt, die im letzten Jahr insofern einen besonderen Akzent erhielten, als die Universität ihr 90-jähriges Jubiläum feiern konnte. Eine wissenschaftliche Bilanz der Goethe-Tage in Buchform liegt uns nun vor. Mein erster Blick gilt immer dem Inhaltsverzeichnis. Entdecke ich dort bekannte Namen, sind Persönlichkeiten vertreten, die entweder seit langem an der Universität lehren oder jüngst erst als Stipendiaten in Weimar ihren Studien nachgingen?

In jedem Jahr bin ich bei dieser Lektüre hoffnungsvoll gestimmt. Nanuli Kakauridze, seit Jahrzehnten das Haupt der germanistischen Literaturwissenschaft in Kutaissi, Trägerin unserer Goldenen Medaille, hat sich mit Nietzsches „Zarathustra“ und dessen Vertonungen durch Richard Strauss und Gustav Mahler beschäftigt. Auf wenigen Seiten hat sie Wesentliches zur dritten Sinfonie von Mahler und zur Tondichtung von Richard Strauss sagen können, die sie als musikalische Transformationen von Nietzsches Text begreift. Mehrere Autorinnen haben für die im Band veröffentlichten Texte Vorstudien in Weimar leisten können. Anna Khukhua widmet sich Erzählperspektiven in Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“, Tamari Napetvaridze stellt Beobachtungen an zur Funktion der pädagogischen Provinz in Goethes und Hesses Romanen („Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden“, „Das Glasperlenspiel“) und Irina Schischinaschwili untersucht die Erzählpoetik in Peter Handkes „Die morawische Nacht“. Mit besonderer Freude denke ich an die Gespräche, die ich mit den drei Wissenschaftlerinnen führen konnte. Mein großer Respekt gehört der Übersetzungskultur in Georgien. Wenn man sich vor Augen führt, dass in dem Kaukasusland nur wenige Millionen leben, kann man nur bewundern, wie viele klassische oder moderne deutsche Texte ins Georgische übersetzt worden sind. Nicht nur in Georgien sind Germanisten häufig auch als Übersetzer tätig, und sie finden ebenso häufig ein Publikum für Autoren, die deutschen Lesern selten noch etwas bedeuten.

Georgische Germanisten sehen es als ihre Aufgabe an, Brücken zu schlagen zwischen der georgischen Gegenwartsliteratur und der modernen deutschen Literatur, dabei Gemeinsamkeiten in thematischer und motivischer Hinsicht zu entdecken. Unter diesem Aspekt hat sich Nino Kvirikadze mit Daniel Kehlmanns Roman „Ruhm“ beschäftigt; Titel und Untertitel hat sie einer Strukturanalyse unterzogen, die Resultate der modernen Sprachwissenschaft einbezieht und zu interessanten Ergebnissen geführt hat. Einige georgische Autoren haben ihr Heimatland verlassen und schreiben mittlerweile auf Deutsch, so die prominente Schriftstellerin Nino Haratischwili, deren Roman „Juja“ von Natia Nassaridse vorgestellt wird. Als „Zeitzeugen totalitärer Regime“ und als „deutsch-georgischen Autor“ stellt Nugescha Gagnidse Giwi Margwelaschwili und seinen 2010 in Berlin erschienenen Roman „Kapitän Wakusch I: Deuxiland“ vor, der schmerzlichen persönlichen Erfahrungen in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts (Nationalsozialismus und Sozialismus) Ausdruck gibt. Der Text von Nugescha Gagnidse hat mich auf diesen postmodernen Roman neugierig gemacht. Absichtsvoll, so darf man annehmen, haben die Herausgeber diesen Beitrag an den Anfang gestellt, führt er doch mitten hinein in die aktuellen Probleme, die das geographisch ferne, doch geistig uns nahe Georgien gegenwärtig gefangen nehmen. Von besonderem Interesse für Goethe-Freunde ist der Beitrag von Irakli Tskhvediani mit dem Titel „Joyce und Goethe: ‚Un noioso funzionario?“ Was sich hinter der italienischen Wendung „Ein langweiliger Beamter“ verbirgt, soll hier gar nicht erörtert werden. Das Material, das der Autor ausbreitet, ist interessant genug und die vorliegende Analyse erweist sich als substantieller Beitrag zur internationalen Goethe-Rezeption.

Alle Bände in dieser Reihe folgen der Intention, die Leistungsfähigkeit der Kultur- und Kunstwissenschaften insgesamt in Kutaissi zu dokumentieren. Darum gibt es auch zwei Beiträge aus der Musikwissenschaft. In einem ersten beschäftigt sich Baia Koguashvili mit literarischen Texten, die Benjamin Britten teils selbst als Opernlibretto eingerichtet hat, teils dies von anderen besorgen ließ, in einem zweiten untersuchen Irina Sarukhanova und Tatiana Dshavakhishvili den Neoklassizismus im „Rosenkavalier“ von Richard Strauss. Dass Georgien auf eine uralte kulturelle Überlieferung zurückblicken kann, gehört auch in unseren Breiten zur Allgemeinbildung. Darum kann es nicht überraschen, dass Tamaz Gvenetadze sich der Geschichte von „Amazonen aus dem Kaukasus“ zuwendet.

Es gehört zu den wichtigen Aufgaben einer Germanistik im Ausland, sich spezifischen sprachwissenschaftlichen Problemen zuzuwenden, wie sie sich aus Korrespondenzen zwischen dem Deutschen und dem Georgischen ergeben und für das wissenschaftliche und literarische Übersetzen von Bedeutung werden können. Hier finden sich Beiträge zu folgenden Themen: „Die MiA [Migrantinnen]-Kurse – ein Modell zur ‚Sprache der Zukunft‘“ (Ekaterine Horn und Miranda Gobiani), „Die Fugenelemente im Deutschen und Georgischen“ (Eliso Koridze), „Übertragung der Eigennamen aus dem Deutschen ins Georgische“ (Teona Nisharadze), „Zur Semantik der Genitivstrukturen in den modernen deutschen Printmedien mit Fokus auf die Zeitschrift SPIEGEL“ (Dali Nikabadze), „Struktur und Übersetzungsbesonderheiten der Komposita vom Deutschen ins Georgische“ (Nino Scharaschenidse). Wenn man als politisch wacher Beobachter die aktuellen Ereignisse in Georgien verfolgt, wird man die „interdisziplinäre Analyse“ von Ramaz Svanidze besonders aufmerksam lesen, die er einer Rede Ursula von der Leyens widmet, die sie unter dem Titel „Die Seele der Union retten“ am 21. September 2021 im Europäischen Parlament gehalten hat.

Besondere Sorgfalt haben die Herausgeber Nanuli Kakauridze und Nino Scharaschenidse auf die Komposition des Sammelbandes gelegt. In meinen Augen erweisen sich der erste und der dritte Beitrag sowie der letzte als inhaltliche Klammer, verweisen sie auf die aktuellen politischen und kulturellen Probleme, die das demokratische Georgien augenblicklich in Atem halten. Auf den Text über Gigi Margwelaschwilis Roman habe ich schon aufmerksam gemacht; hier wird die Vergangenheit in den Blick genommen. Ähnliches geschieht in den Reiseberichten, die Clemens Eich, Sohn von Ilse Aichinger und Günter Eich, über Georgien geschrieben hat und die Irina Khatchapuridze untersucht. Eich richtet seinen literarischen Blick auf ein „Land im Wandel“, so der Untertitel; er hat sich die Darstellung der 1990er Jahre zur Aufgabe gemacht, die Darstellung eines krisengeschüttelten Georgiens, dem gleichwohl seine Sympathie gehört. Sympathie empfindet er für die Menschen und die Natur des Landes, Respekt vor dessen großen kulturellen Traditionen. Von hier aus ist es leicht, einen Bogen zum letzten Text des Bandes zu schlagen, der nüchtern-dokumentarischen Chronik (von Tamaz Gvenetadze) einer „merkwürdigen Städtepartnerschaft inmitten des kalten Krieges“ zwischen Tbilissi und Saarbrücken in den Jahren 1972–1976. Zwar werden deutlich genug die Grenzen markiert, die in puncto ‚Freundschaft nach dem Westen‘ einer Sowjetrepublik von der Moskauer Zentrale anbefohlen wurden, doch die den Untertitel beschließende Formel „So war der Anfang!“ besitzt auch einen verborgenen positiven Impuls. Denn warum, so lässt sich fragen, soll es nicht auch eine Fortsetzung und eine Gegenwart geben? Jeder politisch aufgeschlossene Deutsche weiß um die Schwierigkeiten, die sich einer politischen Annäherung Georgiens an die Europäische Union entgegenstellen. Das kleine Georgien bedarf unserer Unterstützung auf allen Ebenen. Die Goethe-Gesellschaft wird in ihren bescheidenen Bemühungen nicht nachlassen, das kulturelle Band zwischen Georgien und Deutschland noch fester zu knüpfen.

(c) Verlag der Staatlichen Akaki-Zereteli-Universität Kutaissi

Nanuli Kakauridze und Nino Scharaschenidse (Hrsg.)
Goethe-Tage 2023.
Bd. 16 anlässlich des 90-jährigen Jubiläums der Staatlichen Akaki-Zereteli-Universität Kutaissi

Kutaissi 2023
274 Seiten
ISBN 978-9941-455-39-1


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