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Goethe in … Bremen und sogar: Norwegen?
Bekanntlich war Goethe eine reisefreudige Natur. Philologen haben ermittelt, dass er rund 40.000 km zurücklegte in seinem Leben, das entspricht dem Weg einmal um den Äquator. Bemerkenswert ist, wo er überall war. In damals wichtigen Städten besuchte er feudale Adelssitze oder Kunstzentren. Bibliotheken, Gemäldegalerien und Sammlungen von Plastiken besichtigte er, erklomm Burgen und Gipfel oder kletterte hinab in Bergwerke, kurte in Bädern und tanzte auf Bällen. Veranstaltungen im Vatikan, auch päpstliche Zeremonien beschrieb er und Volksfeste wie „Das römische Carneval“ oder das „Sankt Rochus-Fest zu Bingen“. Die Ausgrabungen in Pompeji faszinierten ihn ebenso wie die erste „Feuermaschine“ auf dem Kontinent in Tarnowitz. Goethe war bis an sein Lebensende extrem wissbegierig, stets interessiert, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Nicht ohne Grund steht ein kleines Modell der ersten funktionstauglichen Lokomotive der Welt in seinen Sammlungen: von Stephensons „Rocket“ aus dem Jahr 1829.
Zahlreiche Häuser und Gasthöfe schmücken sich mit seinen Aufenthalten. Gibt man in einer Suchmaschine „Goethe-Blick“ ein, findet man neben einer Störung der Augen eine Reihe von Erhebungen mit schöner Aussicht. Auf dem Brocken prangt natürlich ein Gedenkstein mit seinem Profil. Goethe-Wege gibt es zu Hauf. Wer wandert, will eine Rast einlegen. Auch daran haben Goethe-Freunde gedacht und eine Reihe von Erinnerungs-Bänken aufgestellt. Man findet sie unter anderem in Garbenheim nahe Wetzlar, Werthers „Wahlheim“, in Heidelberg wie auch in Ilmenau. Und neuerdings tatsächlich auch in Bremen, auf dem Lindenberg, im Norden des kleinen Bundeslandes.
Das ist allerdings erstaunlich. Denn Goethe war nie dort. Noch verblüffender wird die Sache, beugt man sich über diese Bank und liest dort auf einem gegen Diebstahl sicher verschraubten, massiven Metall-Schild, es handele sich um die: „Johann Wolfgang von Goethe Bank“. Und unterhalb der größeren Überschrift: „Hier legte Johann Wolfgang v. Goethe im Mai 1793 eine Rast auf seiner Reise nach Norwegen ein. Es ist überliefert, dass er sich erfreut über die gute Aussicht vom noch unbewaldeten Lindenberg äußerte.“ Als Souvenir verkaufen Andenkenhändler an einigen Goethe-Stätten Emaille-Schilder mit dem Aufdruck: „Hier war Goethe“ – und darunter, klein und mühsamer zu entziffern: „nie“. Wenn man so will: Devotionalien der etwas anderen Art. Just das Gegenteil ist hier der Fall: Goethe wird mit der Bank angesiedelt.
Der Ortsteil „Am Lindenberg“ entstand 1938 für leitende Angestellte der Schiffswerft AG Weser. Weil hier gutsituierte Bürger wohnen, die Bremens Tradition als Hafen im Auge haben, spielt die Assoziation mit Goethe durchaus eine Rolle. Denn der verfolgte in Weimar den Bau des künstlichen Hafenbeckens von Bremerhaven, damals angesichts der technischen Möglichkeiten eine Sensation und aus deutschen Landen aufmerksam beobachtet. Goethe notierte unter Verwendung alter Ortsnamen: „…verschaffte mir Weser-Charten, um die mitgetheilten Nachrichten über die neuen Bauten bey Geestendorf und dem Leher Hafen besser einzusehen…“ Lebhaft wurde darüber diskutiert, ob und in wieweit sich seine Informationen im zweiten Teil des „Faust“ in der Szene der Landgewinnung niedergeschlagen haben könnten.
Zu Goethes Zeit gab es das heutige Norwegen noch nicht. Auf dem Schild fehlt ein genaueres Datum. Goethes Biografie und Reisen sind ausführlicher dokumentiert, als die anderer Künstler und Wissenschaftler. Deutschlands nördlichere Gefilde reizten ihn kaum, obwohl er auch von dort Einladungen erhielt. Die Orte der Region galten ihm schlicht als „Sumpf- und Wassernester“. Norwegen als Ziel lag für ihn in jeder Beziehung in weiter Ferne. Bleibt also die Frage, wer auf dem reizvollen, sanft sich nur aus der Ebene erhebenden Bremer Hügelchen diese Plakette angebracht haben könnte: aus relativ edlem Material und solide befestigt. Zumindest hat derjenige, der das Schild anbrachte, sich Mühe gegeben, vielleicht einem Wunschtraum folgend. Offenbar hat Goethe in Bremen heimliche Verehrer. Doch deshalb braucht die Biografie des Dichters nicht umgeschrieben zu werden.