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Ein kritischer Leserbrief


Im  Goethe-Jahrbuch 2021 hat der Marburger Germanist Manuel Bauer das jüngste Buch von Manfred Osten, das unter dem Titel „Die Welt, ‚ein großes Hospital‘. Goethe und die Erziehung des Menschen zum ‚humanen Krankenwärter‘“ bei Wallstein erschienen ist, kritisch besprochen, was nicht ohne Widerspruch von Seiten einiger Leser unseres Jahrbuchs geblieben ist. Unser Mitglied Peter Krüger-Wensierski hat sich mit einem Brief an den Rezensenten gewandt, den wir im Newsletter abdrucken. Es gehört zum Wesen einer demokratisch konstituierten Gesellschaft wie der unseren, dass auf der einen Seite dem Rezensenten von den Herausgebern die Freiheit des Urteils garantiert wird, auf der anderen aber kritische Reflexion einer gedruckten Kritik im öffentlichen Raum möglich und zulässig ist. In diesem Sinne sei unserem Mitglied das Wort erteilt:

Sehr geehrter Herr Dr. Bauer!

Ihre Besprechung von Manfred Ostens Buch Die Welt, „ein großes Hospital“ im Jahrbuch 2021 der Goethe-Gesellschaft Weimar gibt Anlass, mich an Sie zu wenden. Es geht mir in erster Linie nicht um die Frage der Plausibilität Ihrer begründeten Einwände gegen das neue Buch von Herrn Osten. Es geht vielmehr um die ‚Tonlage‘, um die Art und Weise, in der Sie sich in Ihrer Rezension äußern.

Sie erkennen in Ostens Essays etablierte Regeln und erwartbarer Elemente, ein bekanntes Muster, zunächst ein eigenes ‚Genre‘.  Im letzten Absatz ist vom Leser die Rede, der sich wohlvertrauten Elementen anvertraue, sich einer Art enthusiastischer Kurzweil hingebe, ein festes Schema bereisend, in welchen Start und Ziel einerlei zu sein scheinen. Das Wort ‚Trivialliteratur‘ fällt hier ausdrücklich nicht. Dem Goethe-Leser wird damit aber ein Zeugnis ausgestellt, dessen rezeptive Disposition sich mit dem Wort Blödigkeit treffend benennen ließe. Woher nehmen Sie Ihre Erkenntnisse? Ich lese Manfred Ostens Beiträge gerne und mit kritischem Abstand, ohne enthusiastische Trunkenheit, in Anerkennung des Bemühens, ob gelungen oder nicht, Goethe in unsere Zeit ‚hineinzunehmen‘. Mir ist keine Satzung einer deutschen Goethe-Gesellschaft bekannt, die sich dieses schwierig umzusetzende Ziel nicht zur Aufgabe machte. Manfred Osten zählt hier als eine unter weiteren Stimmen.

Der zitierte Brief an Charlotte von Stein, in welchem Goethe die Befürchtung äußerst, „daß zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des anderen humaner Krankenwärter wird“ lässt einiges offen, selbstredend:  eine Befürchtung. Gerade deshalb liegt doch viele Jahre später die Frage auf der Hand, ob Goethes Bedenken, Ahnungen oder Befürchtungen aus heutiger Sicht vorausschauend oder gar berechtigt waren. Der Vorwurf einer ‚Entkontextualisierung‘ liegt auf der Hand, ist aber insofern problematisch, als jede Berufung auf Goethe unter Bezug auf ein ‚Heute‘ den Keim einer Entkontextualisierung in sich trägt. Zu danken gilt es auch, denn Ihre Besprechung bot Anlass, das Bändchen „Warum Goethe heute? Zur Universalität seines Denkens“, herausgegeben von der Goethe-Gesellschaft in Weimar e. V., nochmals mit Gewinn zu lesen.

Mit der Frage, ob Goethe die „Quellgründe jener Immunschwächung“ erkannt habe, hat sich der Autor viel vorgenommen, ich finde es alles in allem eine mutige, vor allem aber interessante Frage. In Verbindung damit folgt die Aufzählung einer Reihe gegenwärtiger Krisenphänomene, deren Anzahl und inhaltliches Gewicht durchaus mit dem mithalten kann, was Sie ihm vorwerfen. Geboten werde eine veritable Nummernrevue […], so Ihre Formulierung. Der Leser denkt an Varietetheater, an eine bunte Nummernfolge mit artistischen Einlagen, an Showelemente, an Unterhaltung, an Lachseligkeit, die Röckchen fliegen. Es darf doch erwartet werden, zumal im Goethe-Jahrbuch, dass sich der Rezensent eine derart verletzende Bissigkeit selbst verbietet, auch wenn es, ich folge dem gewählten Bild, Spaß machen sollte.

Sie machen aus philologischer Sicht Einwände geltend, denen in der Tat in Form eines Gesprächs nachzugehen wäre, Ansichten, die „zu diskutieren“ wären, so der von Ihnen formulierte Gedanke. Ein solches Gespräch, Herr Osten ist Mitglied des Beirats bzw. Vorstands der Weimarer Goethe-Gesellschaft, hätte aus meiner Sicht längst stattfinden können. Ob aber mit dem Vorwurf des Populismus oder dem schweren Vorwurf, der Essay mache sich ambivalente Texte in einem gleichsam ‚tilgenden‘ Zugriff gefügig, Türen nicht eher zugeschlagen werden, die, nicht zuletzt mit Blick auf die Zukunft der Goethe-Gesell-schaft, unbedingt offengehalten werden müssen, ist die Frage. Das gewählte Wortfeld ( Tilgung, Zugriff, Gefügigmachung ) benennt einen Gewaltakt.  Wie soll man als Autor mit einem so formulierten Vorwurf umgehen können? Dass Ihre Kritik im Übrigen nichts, überhaupt nichts an Gelungenem im vorliegenden Buch findet, unterscheidet sie unwohl von einer Reihe weiterer bislang erschienener Rezensionen.

Eine Brücke zu schlagen zwischen der Zeit Goethes und unserer Zeit erweist sich als  gleichermaßen schwierig und zugleich notwendig für diejenigen, denen „Goethe“ mehr ist als nur Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Das Bedürfnis nach Antworten auf die Frage, was Menschen ‚Goethe heute‘ bedeuten kann, ist groß, was nicht zuletzt das Interesse an Manfred Ostens Vorträgen und Büchern zeigt.

Ich komme erneut auf meine einleitende Äußerung zurück. Mit Betroffenheit, ja Ärger sehe ich, letzter Absatz, sehe ich Ihre Vorführung der Leserschaft: Woher nehmen Sie das Recht, am Thema „Goethe“ interessierte Menschen als eine Gruppe von Stimulanten, mein Eindruck, als eine Art Süchtige zu  beschreiben? Von den Osten-Stimulanten zu den Goethe-Simulanten ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. Dem Goethe-Freund, der kritisch, wertschätzend und engagiert um Antworten in der angesprochenen Richtung ringt, wäre an dieser Stelle mit einer differenzierteren Bewertung hinreichender gedient gewesen.

Mit freundlichem Gruß,

Peter Krüger-Wensierski


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