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Autofiktion einmal anders. Zu einem Buch über Henriette von Egloffstein von Heide Schulz

von Jochen Golz

Seit einiger Zeit macht im literarischen Leben ein neuer Begriff die Runde: Autofiktion. Was sich dahinter verbirgt, ist aus meiner Sicht nicht neu und schon von Goethe im Untertitel (nicht Titel!) seiner Autobiographie „Aus meinem Leben“ als „Dichtung und Wahrheit“ apostrophiert worden. Dass jeder Autobiographie ein gutes Maß an Phantasie beigemischt ist, dass Erinnerung sich stets aus real Erfahrenem und aus Bekundungen der Mitlebenden zusammensetzt, wird jeder bestätigen, der sich der schwierigen Aufgabe zuwendet, vom eigenen Leben Rechenschaft abzulegen. Neu mag sein, dass mit dieser Problematik heutzutage ein verwirrendes Spiel getrieben wird, dass der Autor bewusst offenlässt, ob das Dargestellte tatsächlich sich so ereignet hat oder eher ins Reich der Phantasie gehört.

Von derlei Intentionen ist Heide Schulz nicht ganz freizusprechen. Wie ihr dokumentarischer Anhang zu erkennen gibt, hat sie all jene Zeugnisse ausgewertet, die in Archiven, in Büchern und Zeitschriften über ihre Titelheldin vorliegen, darüber hinaus deren Geist und Wortlaut in ihren eigenen belletristischen Text übertragen. Als Werkzeug ihrer autofiktionalen Darstellung hat sie das Interview gewählt: Sie als moderne Autorin stellt Fragen an die fiktive Heldin, unterbricht deren Ausführungen durch Kommentare, ergänzt sie durch Fakten. Die sprachlichen Äußerungen der Henriette von Egloffstein (so ihr Geburts- und erster Ehename, weil sie ihren Cousin Leopold zu heiraten hatte; bei Schulz, mutmaßlich der Überlieferung folgend, Jette genannt) nehmen Maß an ihrer originalen Diktion; nachprüfen kann man das nicht, weil nur an einer Stelle, einem längeren, gut gewählten und aufschlussreichen Zitat aus einem Reisebericht (aus Italien), ausführlicher aus der Quelle zitiert wird. Bei einer ebenfalls durch doppelte Anführung als Zitat ausgewiesenen Folge von Briefen der Tochter Julie an den Weimarer Kanzler von Müller ist Vorsicht geboten, denn die Briefschreiberin spricht z. B. von ihrer „verewigten Mutter“. Da aber Müller schon 1849, Henriette erst 1864 gestorben ist, kann das wohl nicht stimmen. Schulz entwirft ein sympathisches Bild der Gräfin, einer Frau von Charakter und ehrenfesten moralischen Grundsätzen, die sie hier in einer altmütterlichen sprachlichen Verfasstheit zur Geltung bringt (altväterlich geht im Hinblick auf heutige Geschlechterkämpfe nicht).

Von einem Gesamtbild der Henriette von Egloffstein kann man schon deshalb nicht sprechen, weil die gute Hälfte des Buches ihrer ersten Ehe und den dieser entsprossenen fünf Kindern gewidmet wird, die zweite Hälfte ihres sehr langen Lebens (zwischen 1773 und 1864), die sie nach ihrer Scheidung 1804 in glücklicher Ehe mit Carl von Beaulieu-Marconnay (1777–1855) in Hannover und Marienrode bei Hildesheim verbracht hat, so gut wie unbeachtet bleibt; das hannöversche und Hildesheimer Domizil bildet nur einen Ausgangspunkt. In Weimar hat sie lediglich wenige Jahre ihres Lebens (zwischen 1795 und 1804) zugebracht – mit ihren Kindern von ihrem Ehemann getrennt lebend –, ist später nur zu Besuchen ihrer Töchter in die Stadt an der Ilm zurückgekehrt. Was den Goethe-Freund besonders interessiert, ist ihr Verhältnis zum Dichter, der unter den landläufigen Attributen „Olympier“ und „unser verehrter Dichterfürst“ (S. 188) erscheint. So sehr Henriette den Dichter bewundert hat, ihn immerhin ihren „väterlichen Freund“ (S. 179) nennt, seiner charakterlichen Disposition begegnet sie ablehnend; nachdem Schulz sie die Affäre um die von Kotzebue für den 5. März 1802 eingefädelte Schiller-Feier darstellen lässt, die an Goethes Einspruch scheiterte, formuliert Henriette folgendes Resümee: „In meinen Lebenserinnerungen, die für meine Kinder bestimmt sind, ziehe ich den Schluss, dass seine Hinterhältigkeit in dieser Angelegenheit zeigt, dass strenge Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit nicht zu den übrigen großartigen Eigenschaften des erfahrenen Meisters gerechnet werden dürfen“ (S. 224f.).

Einspruch, Eure Ehrin, müsste man da, heutige absurde Konfessionen bedienend, ausrufen, sind doch die bei Goethe angeblich fehlenden Eigenschaften in Wahrheit seine beständigsten. Leser des Buches von Heide Schulz könnten sich in einem Goethe-Vorurteil bestätigt fühlen, darum mein Einspruch. Ähnlich einseitig fällt auch die Darstellung des von Goethe arrangierten Cour d’amour aus – hier wird Louise von Göchhausen zur Interviewpartnerin – , von dem sich Henriette von Egloffstein an einem bestimmten Punkt zurückgezogen hat. Dem von Ghibellino verbreiteten Unsinn hat sich Schulz insofern geneigt gezeigt, als sie sich (mit den Worten der Henriette) für die These erwärmt, Goethe habe eventuell für Herzogin Louise oder für deren Schwiegermutter Anna Amalia eine unziemliche Leidenschaft gehegt. Weniger fällt da ins Gewicht, dass es im Faktischen diesen oder jenen Fehler gibt. Dafür nur einige Beispiele. Als Goethes Sohn August klein war, hatte Louise noch nicht den Status der Großherzogin (S. 133). Valmy ist nicht ein in der Nähe von Mainz gelegenes Dörfchen (S. 138), sondern liegt in Frankreich. Die Darstellung der Mainzer Republik ist ebenso wenig historisch stimmig wie die Beurteilung von Karl Eugen und der von ihm gegründeten Akademie; nicht nur an dieser Stelle werden der historischen Person aktuelle Urteile in den Mund gelegt. Ob Lavater tatsächlich, wie Henriette notiert haben soll, sich als – wie man heute sagt – „übergriffig“ erwiesen hat, überhaupt ein „scheinheiliger Patron“ (S. 159) gewesen ist, stehe dahin, hier lässt MeToo grüßen; der Titel von Lavaters „Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“ wird unvollständig und unkorrekt zitiert.

Derlei Kleinigkeiten sollen aber nicht den Gesamteindruck ungebührlich herabstimmen. Der Philologe in mir hätte es gern gesehen, wenn die in den Text eingestreuten Zitate korrekt nachgewiesen worden wären. Der fehlerhafte Abdruck des Goethe-Briefes vom 7. Dezember 1830 auf S. 229 – Antwort auf ein „Sehr bedeutendes Schreiben der Frau von Beaulieu“, so Goethes Tagebuchnotiz vom 4. Dezember (WA III, 12, S. 338) – lässt Zweifel aufkommen. Die gewählte Form – eine Folge von in der Gegenwart angesiedelten Dialogen zwischen der realen Autorin und der Titelheldin – erlaubt eine einfühlsame Charakterisierung von Henriettes Entwicklung und ihrer persönlichen Verhältnisse, steht in gewisser Weise aber einem abgerundeten Porträt ihrer Persönlichkeit im Wege, wie es Effi Biedrzynski in ihrem Buch „Goethes Weimar“ meisterlich gelungen ist. Wer in dieser Hinsicht Genaueres erfahren möchte, sollte das Buch von ‚Frau Bi‘ ebenso konsultieren wie Karl Heinz Martinis 2019 erschienene Darstellung „Goethe und die Egloffsteins in Weimar“.

(c) Isensee

Heide Schulz
Jette. Auf eine Tasse Tee mit Goethes Freundin Henriette von Egloffstein

Oldenburg 2024
239 Seiten
ISBN 978-3-7308-2120-6
Preis: 24,00 €


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