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Familien-Erinnerungen illustriert mit der Plattenkamera – die Venedig-Reisen der Goethes

von Andreas Rumler

Venedig: Blick auf den Canal Grande, unbekannt, ca. 1875 (Bildnachweis: Städel Museum, Frankfurt am Main, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e.V.)

Seit Jahren können sich die Mitglieder der Hamburger Ortsvereinigung fest darauf verlassen, dass ihnen ein höchst anspruchsvolles Klassik-Seminar angeboten wird und dessen Vorträge anschließend gebunden nachzulesen sind. Allein, es kam Corona. Deshalb musste leider das Thema „Goethes Frauen-Gestalten in Drama und Roman“ zunächst einmal verschoben werden. Schade, aber das müsse ja nicht gleich bedeuten, überlegte man an Alster und Elbe, auf eine Jahresgabe ganz zu verzichten. 

Ganz überraschend fällt die diesjährige gleich mehrfach aus der bewährten Reihe. Im Querformat, mit weißem Text auf schwarzem Papier und eigentlich ein veritabler Bildband statt der gewohnten Essaysammlung. Denn es handelt sich um historische Fotos aus der frühesten Phase dieses Mediums. Brauntöne statt Schwarz-Weiß. Goethe, technikbegeistert wie er war – immerhin besaß er ein Modell von Stevensons „Rocket“ –, hätte diese Möglichkeit, Bilder und Wissen zu fixieren, bestimmt begrüßt. Aber erst seine Schwiegertochter Ottilie gelangte in den Besitz weniger Fotografien. Goethe benutzte zwar eine Camera obscura für optische Experimente, unwahrscheinlich ist aber, dass er von der ersten bekannten Fotografie 1826 Kenntnis hatte. Deren Belichtungszeit dauerte 8 Stunden. 

Unter dem Titel „Die Welt bewohnbar finden. Venedig-Reisen und das Haus Goethe“ hat Volker Wolter historische Aufnahmen der Lagunenstadt zusammengestellt von Plätzen, die vier Generationen der Goethes besucht und beschrieben haben. Bereits 1740 war Johann Caspar Goethe in Italien, Sohn Johann Wolfgang folgte ihm 1786 und 1790, der Enkel August starb 1830 in Rom und Ottilie von Goethe besuchte Venedig, gemeinsam mit ihrem Sohn Walther, mehrfach zwischen 1845 und 1859. Über diese Aufenthalte in Venedig im Lauf von mehr als 100 Jahren haben sie Tagebücher geführt, Briefe und Berichte hinterlassen. Rein privater Natur waren die Texte von Großvater und Enkel, nur Johann Wolfgang hatte von Anfang an eine Veröffentlichung im Sinn und bat Frau von Stein – in der Rolle einer Mitarbeiterin oder Sekretärin –, seine ihr vorab übersandten Tagebücher für eine Publikation vorbereitend zu redigieren.   

Volker Wolter hat jene Orte aufgelistet, die sie in Venedig besuchten, und sie mit historischen Aufnahmen dokumentiert. Massive Plattenkameras auf soliden Gestellen kamen damals zum Einsatz, häufig arbeitete der Fotograf abgedunkelt hinter einem Tuch. Gläsern waren die Negative, die Abzüge erfolgten auf Albumin- oder Salzpapier. Erstaunlich scharf sind die Konturen, offenbar waren recht bald die Belichtungszeiten so kurz, dass Bewegungen kaum verwischt wurden. Bei älteren Bildern bemühte der Fotograf geduldig posierende Statisten; weiche Schatten und Flecken im Bild verraten, wo sich unbeteiligte Fußgänger oder Boote bewegten. 

Wie „schwimmende Särge“ kommen die Gondeln August von Goethe wegen ihrer Farbe vor: „es ist wirklich schauderös daß man auf dem herrlichen Element des Meeres hier in Trauerhüllen fahren muß“. (S. 92) Damit spielt er – wohl mit Absicht – auf ein Venezianisches Epigramm seines Vaters an: „Diese Gondel vergleich‘ ich der sanft einschaukelnden Wiege,/ Und das Kästchen darauf scheint ein geräumiger Sarg./ Recht so! Zwischen der Wieg‘ und dem Sarg wir schwanken und schweben/ Auf dem großen Kanal sorglos durchs Leben dahin.“ (S. 90) Und er erinnert sich an ein Souvenir seines Vaters: „ein schönes Gondelmodell von Venedig“ (S. 90), mit dem er einst spielen durfte. Da sie die Texte ihrer Altvorderen genau kannten, entwickelt sich bei Vater und Sohn ein Dialog mit der älteren Generation. 

Den bekannten Motiven der Kanäle, Brücken, Paläste und Kirchen wie dem Markusdom mit der aus Konstantinopel geraubten Quadriga stellt Volker Wolter die Texte der Familie gegenüber und ergänzt sie um politisch und kunsthistorisch relevante Erläuterungen. Im Jahr 1094 sei die Basilica di San Marco fertiggestellt worden und: „Pünktlich zu diesem Ereignis wurden am 25. Juni 1094 der Legende nach auch die lange verschollenen Gebeine des Hl. Marcus wiedergefunden.“ (S. 66) Manche Hinweise lesen sich wie ein Krimi, etwa über den Weg der bronzenen Pferde, der „cavalli“ von St. Marco: „nach der Plünderung Konstantinopels durch Kreuzfahrer 1204 nach Venedig verbracht. 1798 von Napoleon nach Paris geschafft, 1815 wieder nach Venedig.“ (S. 70) 

Und Volker Wolter vergleicht die Reisemotive und Intentionen der Familienmitglieder. Während Johann Caspar Goethe und August sehr exakt Daten mitteilen, etwa die Länge von Bauwerken oder ihre Erbauungszeit, interessieren Johann Wolfgang eher kunsthistorische Bedeutung oder architektonische Besonderheiten. Im Tagebuch notiert er auch persönliche Details, man könnte sie als soziologische Beobachtungen lesen: „Heute hat mich zum erstenmal ein feiler Schatz bey hellem Tage in einem Gäsgen beym Rialto angeredet.“ (S. 118) Ottilie schildert auch die in Reiseführern empfohlenen Sehenswürdigkeiten, verbucht aber mehr ihre Unternehmungen: „bei Florian Chokolade getrunken“ (S. 78), wen sie besuchte und traf, das Wetter oder ihr Befinden. 

Gestaltet ist der Band wie ein historisches Fotoalbum, als man in grau-analoger Vorzeit teure Abzüge auf schwarzes Papier heftete, beschriftet mit Stahlfeder und weißer Tinte. In seinen „Nachgedanken“ schreibt Volker Wolter „Die Photos sind von archaischer Ruhe, sind gefrorene Zeit, ein Abglanz im goetheschen Sinne, darin ein Zugeständnis an die Rahmenbedingungen der technischen Wahrnehmung.“ (S. 140) Den Titel übernahm er von Erhart Kästner, der einmal formulierte, man reise, „um die Welt bewohnbar zu finden“. (S. 27) Es macht Spaß, in diesen Familienerinnerungen samt Illustrationen blättern zu können, spontan verspürt man den Reiz, aufzubrechen in die Serenissima und nach Rom. Wohl selten nur hatte das Bonmot, aus der Not eine Tugend zu machen, mehr Berechtigung als in diesem Fall einer Jahresgabe der etwas anderen Art. Sie macht Lust auf mehr. Bekanntlich waren die Goethes nicht nur in Venedig, deshalb plant Volker Wolter eine Erweiterung und Fortsetzung dieses Bandes zu den anderen italienischen Reisezielen der Familie Goethe. Man darf sich darauf (auch) freuen.

Goethegesellschaft Hamburg (Hrsg.)
Die Welt bewohnbar finden. Venedig-Reisen und das Haus Goethe.

Mit einem Essay und Erläuterungen von Volker Wolter sowie historischen Venedig-Photos aus seiner Sammlung. 

Im Selbstverlag der Goethegesellschaft Hamburg
144 S.

Preis: 16,50 € incl. Versand 
(Bestellung bei volker.wolter@kabelmail.de)

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 3/2021.


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