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Umfangreich und ambitioniert: Goethe in persischer Sprache
Dr. Saied Pirmoradi hat zahlreiche Werke Goethes für den persischen Sprachraum durch seine Nachdichtungen zugänglich gemacht und berichtet im Gespräch mit Andreas Rumler von seinen Erfahrungen als Übersetzer. Kurz nach unserem Interview erhielt Herr Pirmoradi die erfreuliche Nachricht, dass sein Verlag Cheshmeh Publication in Teheran seine Übersetzung des „West-östlichen Divan“ mit dem ersten Preis für die beste Publikation ausgezeichnet habe. Dafür stellt Cheshmeh Publication Buchhändlern und einem kompetenten Fachpublikum aus Schriftstellern und Übersetzern jährlich landesweit rund 50 Veröffentlichungen vor und bittet um die Wahl des Favoriten. Der Preis ist nicht finanziell dotiert, sondern mit einer symbolischen Ehrengabe verbunden und wird mit Lesungen gefeiert.
Herr Dr. Pirmoradi, Sie leben als Dozent und Familientherapeut in Berlin, haben sich aber nicht nur als Psychologe hier einen Namen gemacht, sondern ebenso am familientherapeutischen Institut in Isfahan an der Isfahan University of Medical Sciences, das Sie gegründet haben und in leitender Funktion betreuen. Und ebenso, wie Sie in Persien und in der Bundesrepublik wissenschaftlich tätig sind, wohnen – um „Faust“ zu variieren – „Zwei Seelen“ offenbar in Ihrer Brust. Sie haben neben Ihren psychologischen Interessen an der Freien Universität Berlin promoviert und als Philologe Werke Goethes in die persische Sprache übersetzt – und zwar eine erstaunlich große Anzahl. Um welche Werke Goethes handelt sich?
Meine erste Goethe-Übersetzung galt den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“. Darin sind noch heute wichtige Themen wie Auswanderung und Toleranz thematisiert. Der zweite von mir übersetzte Text, der ebenso zu den Meisterwerken Goethe zählt, waren „Die Wahlverwandtschaften“. Eigentlich kein Eheroman, aber reich an zentralen Themen, die noch heute die Institution Ehe betreffen und moralische wie auch emotionale Verstrickungen zeigen. Ich hatte das große Glück, für die beiden Werke Frau Prof. Dr. Katharina Mommsen für Vorworte zu diesen Übersetzungen zu gewinnen. Sie hat mich in erheblichem Umfang bei der Übersetzung von Goethes Werken moralisch wie auch literarisch unterstützt. Frau Mommsen hat meine Arbeit enthusiastisch begleitet und erschien mir daher als eine Art ‚Energiequelle‘ und half mir ganz wesentlich. Dafür bin ich Ihr ewig verbunden. Die weiteren, man könnte ja sagen, fünf kleineren Werke mit diversen thematischen Schwerpunkten, die gesammelt in einem Band erschienen sind, heißen „Clavigo“, „Stella“, „Die guten Frauen als Gegenbilder der bösen Weiber“, „Der neue Paris“ und „Die neue Melusine“. Diesen Band habe ich als kleines Dankeschön Frau Katharina Mommsen gewidmet. Meine achte Übersetzung ist der wohl weltweit bekannte „West-östliche Divan“, sie ist im Januar 2021 in Teheran erschienen. Meine neunte Goethe-Übersetzung betrifft „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, die ich zum Druck freigegeben habe und die voraussichtlich im Frühjahr 2022 publiziert wird.
Was hat Sie an diesen Texten so interessiert, dass Sie sie nicht nur privat gelesen haben, sondern beschlossen, sie ins Persische zu übersetzen? Was bedeutet Ihnen Goethe als Mensch und Autor?
Vielen klassischen Texten ist die Zeit- und Ortlosigkeit immanent. Goethes Werke liefern meines Erachtens gute Bespiele hierfür und sind größtenteils zeitlos aktuell, weil sie eben die elementaren Themen und Bedürfnisse wie auch die Not der Menschen ansprechen. Bei Goethe ist es bezeichnend, dass er häufig und zugleich nachvollziehbar Auswege aus Krisen aufzeigt. Mich fasziniert seine ständige und in fast allen Werken spürbare Kombination von Leidenschaft und Tätigkeit. Darin sehe ich den gesunden und konstruktiven Baustein zwischen individuellen und sozialen Interaktionen. Er war ein Mensch, der weitgehend offen in seinen Werken reflektierte. So sagte er beispielsweise über „Die Wahlverwandtschaften“, es gäbe keine einzige Zeile, die er nicht selbst erfahren hätte. Solche Äußerungen waren und sind noch heute rar. Er übernahm den Begriff „Weltliteratur“ und verkörperte diese Idee in seinen Werken und Begegnungen. So liest man kaum ein Werk Goethes, in dem nicht andere Kulturen vorkämen. Als Psychologe hat mich fasziniert, wie Goethe offen auch die persönlichen Konflikte und Verhältnisse in sein Werk einfließen lässt und darüber hinaus häufig auch Lösungsansätze anbietet, parallel dazu aber auch neue Fragen aufwirft, die zum Nachdenken einladen.
Was könnte Persiens Bürger heute noch an ihm interessieren?
Persiens Bürger verbindet vieles mit Goethe. 1924 wurde „Die Leiden des jungen Werthers“ als erstes Werk Goethes ins Persische übersetzt und mehrfach verlegt. Interessant ist auch, dass Goethe insbesondere in den fortgeschrittenen Jahren seines Lebens stark von der persischen Literatur und persischen Dichtern fasziniert war, allen voran von Hafiz, den er als seinen „Zwillingsbruder“ bezeichnet hatte. Für die heutigen Verhältnisse ist kaum vorstellbar, wie Goethe, der über fünfhundert Jahre nach Hafiz gelebt hatte, sich ihm nahe und verbunden fühlte. Sein epochales Werk „West-östlicher Divan“, der wesentlich zur Internationalisierung der persischen Literatur beigetragen hat, ist größtenteils ein leidenschaftlicher, aber auch kritischer Dialog mit der persischen Literatur und den persischen Dichtern. Das Goethe-Hafiz Denkmal in Weimar stellt ein gutes und anschauliches Symbol für kulturellen Brückenbau und Dialoge dar. Darüber hinaus meine ich, die Themenschwerpunkte in Goethes Werken sind größtenteils universal und existenziell und somit auch für die persischen Leser interessant.
Haben Sie Reaktionen oder Anfragen von Lesern Ihrer Übersetzungen erhalten?
Ja, die Publikation meiner Übersetzungen ist in einer hervorragenden Kooperation mit einem der renommiertesten Verlage in Teheran, Cheshmeh Publication, realisiert worden. Dies war sehr wichtig, weil es u. a. den landesweiten Vertrieb der Werke erleichtert hat. Deshalb erschienen zahlreiche Rezensionen in den iranischen Zeitungen. Auch hilfreich waren die Lesungen, die in Teheran und Isfahan staatgefunden haben. Mein Freund, der Schriftsteller und Übersetzer – übrigens auch Goethe-Preisträger – Mahmud Hosseinizad hat eine ausführliche Rezension meiner Übersetzungen verfasst. Darin heißt es, dass diese Übersetzungen zur Wiederbelebung des Goethe-Diskurses
im Iran wesentlich beigetragen hätten. Ich erinnere mich sehr gerne auch an die vier Mal wöchentlich nacheinander folgenden Veranstaltungen unter dem Motto „Goethes Nächte im Isfahaner Herbst“ im Herbst 2018, wo ich persönlich die Gelegenheit hatte, über einzelne Werke mit einem sehr interessierten Publikum ins Gespräch zu kommen. Diese Veranstaltungsreihe hat, wie ich es gerne ins Gedächtnis rufen möchte, einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Zu erwähnen ist außerdem, dass alle Werke bereits mehrere Auflagen erreicht haben, der Spitzenreiter dabei sind „Die Wahlverwandtschaften“, die schon in fünfter Auflage erschienen sind.
Haben Sie auch Autoren anderer Länder ins Persische übersetzt oder ebenso zeitgenössische deutsche Autoren?
Nein, weil ich einerseits keiner anderen Sprache mächtig bin, anderseits sind die zeitgenössischen deutschen Werke gut ins Persische übersetzt. Ich hatte von Beginn an die Idee, eine kleine Sammlung von Goethes Werken ins Persische zu übertragen, was bis heute gut gelungen ist. Es ist ein schönes literarisches Ereignis im Iran, eine solche Sammlung zustande zu bringen. Nun möchte ich in größter Freude und in tiefster Bescheidenheit festhalten, dass es mir gelungen ist, bislang die meisten Werke Goethes ins Persische übersetzt zu haben. Das empfinde ich als eine Ehre und diese kleine Sammlung gilt mir als ein kleines Dankeschön an die Person Goethes, der sich so leidenschaftlich für kulturellen Brückenbau engagiert hat.
Welche weiteren Texte Goethes oder anderer Autoren aus seiner Zeit würden Sie künftig so sehr interessieren, dass sich die Mühe machen wollen, sie zu übersetzen?
Jetzt komme ich zu meiner zehnten und aller Wahrscheinlichkeit nach letzten Übersetzung, nämlich „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, woran ich aktuell arbeite. Mit diesem Werk beabsichtige ich meine Übersetzungsreihe von Goethes Werken ins Persische abzuschließen. Die Auswahl der Werke umfasst verschiedene Lebensalter des Dichters, so kann ich heute festhalten, dass Werke Goethes aus den Jugendzeit, der mittleren Epoche und den Altersjahren in meiner Sammlung vertreten sind.
Haben Sie eigene literarische Texte verfasst oder tragen Sie sich mit dem Gedanken, selbst als Schriftsteller aktiv zu werden?
Nein. Ich habe bislang lediglich einige Texte in meinem Fach als Psychologe und Familientherapeut verfasst. Allerdings habe ich mir schon einmal Gedanken gemacht, ob ich es wagen sollte, in die schriftstellerische Richtung zu gehen. Allem voran habe ich daran gedacht, eine Autobiographie im Zusammenhang mit meinem migrantischen Hintergrund zu schreiben. Das interessiert mich sehr, vielleicht fange ich eines Tages damit an.
Welche Aspekte Ihrer Arbeit als Übersetzer sind Ihnen wichtig, die sie anderen Übersetzer-Kollegen mit auf den Weg geben wollen?
Schriften sind ewig, und das Geschriebene, das Veröffentlichte sind Manifestationen einer Epoche. Sie erreichen aber viele nachfolgende Generationen. Dies stellt eine große Herausforderung an Menschen, die in unterschiedlichen Formen wie etwa Schreiben oder Übersetzen Schriften produzieren bzw. gestalten. Übersetzen bedeutet aus meiner Sicht nicht die mechanische Übertragung der Textinhalte in eine andere Sprache, sondern stellt eine kreative Tätigkeit dar, die die jeweiligen Zielgruppen anzusprechen in der Lage sein soll. Leidenschaft, Genauigkeit, Treue zum Schriftsteller und nicht zuletzt Geduld, bilden in meinen Augen die Grundlagen der Übersetzung, insbesondere wenn es sich um literarisch-klassische Werke handelt. Wahr ist, dass jeder Schriftsteller und Dichter seine eigene spezifische Gefühls- und Gedankenwelt besitzt und einen bestimmten Zeitgeist widerspiegelt, welcher sich sehr wahrscheinlich in den Werken wiederfindet. Daher scheint mir wichtig, über die Konzentration auf konkret zu übersetzende Werke hinaus sich auch mit der psychosozialen Lebensgeschichte der Schriftsteller zu beschäftigen. Ich habe das große Glück gehabt, im Vorfeld meiner Goethe-Übersetzungen eine hervorragende Psychobiographie von ihm zu studieren und ins Persische zu übersetzen. Es handelte sich dabei um das Buch „Leidenschaft. Goethes Weg zur Kreativität“ von Rainer M. Holm-Hadulla. Dadurch habe ich einen tiefen Einblick in die Person Goethes und seine Werke gewonnen. Ich wollte die Welt, in der Goethe aufgewachsen ist und gelebt hat, so genau wie möglich kennenlernen. Also war ich in seinem Elternhaus in Frankfurt, worin ich mich stundenlang aufgehalten, auf den Haustreppen gesessen und mich umgeschaut habe. Auch meine Besuche in Weimar verschafften mir tolle und wertvolle Eindrücke über seine Arbeits- und Lebensweise. Dichter und Schriftsteller unterscheiden sich in ihrem jeweiligen spezifischen Sprachgebrauch. Als Übersetzer braucht man Zeit, sich damit anzufreunden bzw. sich diese anzueignen. Ich habe für mich entschieden, bei einem Schriftsteller und Dichter zu bleiben, um ihn fortwährend besser zu verstehen und zu vermitteln.
Zu übersetzen bedeutet ja auch, Texte einem anderen Kulturkreis und Lesern zu vermitteln; Brücken zu schlagen, Vermittlungen und Annährungen zu leisten. Was ist in Ihren Augen der Sinn dieser Arbeit und die wichtigste Aufgabe eines Übersetzers? Könnten Sie das bitte an konkreten Beispielen verdeutlichen?
Die Übersetzung ist das älteste und zugleich das beständigste Medium für interkulturelle Begegnungen und stellt aus meiner Sicht eine unersetzliche Quelle zur wechselseitigen Bereicherung dar. Durch Übersetzen lernen wir Welten, Menschen, Ideen und Emotionen kennen, die orts- und zeitunabhängig von uns leben. Vieles, was wir heute als menschliche Errungenschaften preisen, etwa in wissenschaftlichen, philosophischen, literarischen aber auch politischen Dimensionen verdanken wir Übersetzungen. Dies stellt den Übersetzer vor große Verantwortung und Herausforderungen. Übersetzen ist meines Erachtens eine kreativ-schöpferische Tätigkeit, man könnte ja sogar behaupten, es handelt sich dabei um eine Neugestaltung eines Textes, die viele Feinheiten zu berücksichtigen hat. Das kontextuale Verstehen der Ursprungssprache, Hineintauchen in die Gedanken- und Gefühlswelt des Schriftstellers sowie dessen Zeitgeist und schließlich die sinnhafte wie auch sprachlich verstehbare Übertragung an die Zielsprache sind notwendige Elemente einer sinnvollen Übersetzung. Ich habe mich ziemlich intensiv mit Goethe beschäftigt und wie aus den obigen Darstellungen hervorgeht, könnte man sagen, ich habe zeitweise mit Goethe gelebt. Dabei hat mich die folgende Erzählung die ganze Zeit begleitet, wie ein Leuchtturm. Ich habe nämlich irgendwo gelesen, dass Goethe die französische Übersetzung von „Die Leiden des jungen Werthers“ sehr gut gefallen hat. Dies habe ich mir zum Vorbild genommen, in dem Sinne, dass auch meine Übersetzungen ihm gut gefallen sollten. Dies motivierte mich zu höchster Sensibilität, Genauigkeit und Freude bei der Übersetzung.
Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 3/2021.