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Ein Jubiläum der besonderen Art: Die Hamburger Goethe-Gesellschaft wurde hundert Jahre alt
Im Jahre 1917 hatte sich die erste Ortsvereinigung der Goethe-Gesellschaft in München gegründet – damals ein Akt der Emanzipation von der ‚Mutter‘ in Weimar. Hundert Jahre später war die Gründung ein Anlass, die turnusmäßig stattfindenden Tagungen der Ortsvereinigungen nach München zu holen. Mittlerweile hat sich die Zahl der Hundertjährigen erhöht: Berlin gehört dazu, Essen, Jena und nun auch Hamburg. Wie es zu den Gepflogenheiten einer traditionsbewussten Hansestadt gehört, wird ein solches Ereignis ‚standesgemäß‘ begangen. Zum Empfang eingeladen hatte der Staatsrat der Behörde für Schule und Berufsbildung Rainer Schulz in den Bürgermeistersaal des Hamburger Rathauses – einen prachtvollen Raum, würdig des zu begehenden Jubiläums. Die Vermutung ist wohl nicht abwegig, dass die Hansestadt damit auch die produktive und wichtige Arbeit der Pädagogin Ragnhild Flechsig, der Hamburger Vorsitzenden, auf angemessene Weise ehren wollte; seit 2019 ist sie unser Ehrenmitglied. Im Saal fanden sich die Mitglieder der Hamburger Ortsvereinigung ein, zudem ‚Würdenträger‘ aus der Politik, aber auch Repräsentanten anderer literarischer Vereinigungen in Hamburg; das war eine schöne Geste der Ausrichtenden, bezeugt sie doch ein Klima des Vertrauens zwischen den Gesellschaften, wie es offenbar die kulturelle Arbeit in der Hansestadt generell auszeichnet. All dies kam in den Grußworten von Staatsrat Schulz zum Ausdruck und wurde in der Festrede von Ragnhild Flechsig bekräftigt, die auf eine kontinuierliche Entwicklung ‚ihrer‘ Gesellschaft zurückblicken konnte, in der das produktive Zusammenwirken von Universitätsgermanistik und pädagogischer Praxis stets eine besondere Rolle gespielt hat. Vorbildlich ist all das – auch für die ‚Muttergesellschaft‘ –, was in Hamburg bei den herbstlichen Klassikseminaren für die Goethevermittlung in der Schule geleistet worden ist. Das war auch ein Punkt, der im festlichen Gruß unseres Präsidenten besonders hervorgehoben worden ist, dem ein Hamburger Schauspieler zu besonderem rhetorischen Glanz verhalf; er kann weiter unten nachgelesen werden.
Was aber ist eine Jubiläumsfeier ohne einen Willkommenstrunk, der überleitet zu heiteren Gesprächen über Gegenwart und Zukunft, ich selbst – als Ehrenpräsident schon dem Wortlaut nach Ehrengast – habe alte Kontakte wiederbeleben, neue Verbindungen knüpfen können. Blicke ich auf die Hamburger Gesellschaft, so habe ich ein gutes Gefühl. Ein Altersvers Goethes möge meine Empfindungen beglaubigen: „Freudig trete herein, und froh entferne dich wieder“.
Stefan Matuschek: Hamburgs Goethe-Gedenken
Hamburg ist – trotz Goethe-Straße, Goethe-Allee und Goethe-Park – keine Goethe-Stadt. Sein gesamtes langes Leben hindurch hat Goethe keinen Bezug zu ihr gefunden, weder den Fuß in sie gesetzt noch sich sonst irgendwie für sie interessiert. Das gilt ebenso für Berlin, wo er anders als in Hamburg mit Zelter immerhin einen vertrauten Briefpartner hatte. Anders als Hamburg hat Berlin ein Goethe-Denkmal in seinem Stadtbild, eine zwei-Meter-zweiundsiebzig hohe Marmorskulptur auf einem noch höheren Sockel am östlichen Rand des Tiergartens. Zusammen mehr als sechs Meter aufragender Marmor. Wenn schon nicht der Dichter mit der Stadt, so hat sich dennoch die Stadt mit dem Dichter verbunden. Das gilt indes ebenso für Hamburg. Die große Hafenstadt an der Elbe pflegt jedoch kein monumentales, sondern ein intellektuelles, wissenschaftliches, literarisches und künstlerisches Goethe-Gedenken. Keine sechs Meter Marmor; stattdessen Papier, Bücher, Leinwand. Es ist, als wollte sich das Klischee des ‚feineren‘ Hamburg auch im Goethe-Gedächtnis durchsetzen.
Das wichtigste Zeugnis dafür ist die Tat eines Verlegers. Die Hamburger Goethe-Ausgabe heißt so, weil sie ursprünglich im Hamburger Christian Wegner Verlag erschienen ist. Ihr Herausgeber und Kommentator, Erich Trunz, war Professor in Münster. Es war der Hamburger Christian Wegner, ein Neffe des Insel-Verlegers Anton Kippenberg, der diese Trunzsche Ausgabe initiierte und für ihre Finanzierung sorgte. Heute erscheint sie in München bei C.H. Beck und dtv. Doch ihr Name zeigt ihren Geburtsort weiterhin zu Recht an. Neben den vier anderen – der Weimarer, Berliner, Münchner und Frankfurter – hat die Hamburger Ausgabe durch ihre Kompaktheit und ihren seit der Taschenbuchversion aus dem Goethejahr 1982 günstigen Preis wohl am meisten zur Präsenz von Goethes Werken beigetragen. Dass sich bis heute eine große Goethe-Ausgabe bis in studentische WG-Zimmer hinein findet, ist das Verdienst des Hamburger Verlegers Christian Wegner.
Das zweite Zeugnis stammt aus der Hamburger Universität. Der dortige Germanist Karl Robert Mandelkow hat das geschaffen, was es so ausführlich und kompetent zusammengestellt bislang nur für Goethe gibt: Eine Dokumentation seiner Rezeptionsgeschichte von den Anfängen bis 1982. Klassiker werden nicht von sich aus zu solchen, sondern erst durch die Aufnahme und Einschätzung der Nachwelt. Dabei ist das Klassikerbild nicht objektiv, sondern eine Interpretation und Vorstellung derer, die den Klassiker immer mit eigenen Absichten zu einem solchen erklären. Das gilt für Goethe in extremer Weise. Nirgendwo kann man sich das so kompakt vergegenwärtigen wie in der Anthologie aus der Hamburger Universität.
Das dritte Zeugnis des Hamburger Goethe-Gedenkens ist nun doch ein Denkmal, allerdings ein nur imaginäres, gemaltes, das vieles zeigt, nur Goethe nicht. Es stammt eigentlich aus Dresden, ist aber erst seit dem Ankauf durch die Hamburger Kunsthalle im Jahr 1911 dort der Öffentlichkeit zugänglich. Es handelt sich um das Gemälde Goethe-Denkmal, 1832 des Dresdner Mediziners und Malers Carl Gustav Carus. Es ist eine Hommage des Goethe-Bewunderers an den Verstorbenen, die – wie voller Ehrfurcht – eben nicht den Verstorbenen zeigt, sondern in eine romantisch-mythische Naturszene ausweicht. Sie erinnert sehr deutlich an Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer, nur dass statt des Wanderers ein antiker Sarkophag auf dem Berg über dem Nebel steht, auf ihm zwei kniend gebeugte, betende Engel zu beiden Seiten einer unberührten Harfe. Im Hintergrund noch schroffere, monumentalere und kahlere Berge als bei Friedrich, das ganze im grauen Dämmerlicht einer sehr kleinen, fahlen, mehr als halb verdeckten Sonne hinter den Wolken, wodurch insgesamt eine ossiansche Stimmung entsteht. Wo Goethe fehlt, endgültig fehlt – zeigt dieses Bild –, herrscht weltdurchwaltende stille dunkle Trauer. Es ist wohl das traurigste Goethe-Denkmal, das sich je jemand vorgestellt hat.
Doch schnell weg von der Trauer, denn wir haben dazu keinen Anlass. Im Gegenteil. Um das evident zu machen, brauche ich nur den vierten Zeugen des Hamburger Goethe-Gedenkens zu nennen; es ist der, dessen 100. Geburtstag wir heute feiern: die Hamburger Goethe-Gesellschaft. Sie zu gründen war die Idee eines Hamburger Universitätsprofessors, doch war sie von Anfang an die Brücke zwischen Wissenschaft und Liebhabern, die alle Goethe-Gesellschaften bis heute schlagen. Darin liegt überhaupt ihr Wert; und er ist noch wichtiger und existenzieller für die Wissenschaft als für die Liebhaber. Denn die kommen wohl auch ohne Wissenschaftler klar. Wenn die Wissenschaftler aber nur noch unter sich blieben, dann würden sie sich zunehmend nur noch um sich selbst drehen und dabei riskieren, dass ihr Wissen und ihre Erklärungen zur Literatur außerhalb ihrer selbst keinerlei Interesse mehr weckten. Anders als Ingenieure, deren Maschinen man gern benutzt, auch ohne ihr Funktionieren zu verstehen, haben Geisteswissenschaftler nichts anderes als das Verstehen anzubieten. Damit man sie als Wissenschaftler weiterhin ernst nimmt, kommt es darauf an, dass man sie außerhalb ihres eigenen Betriebs auch versteht. Die Goethegesellschaften bieten dafür die beste Gelegenheit. Der Hamburger Ortsverein ist dabei besonders aktiv und integriert auch den breitesten Vermittlungsbetrieb zwischen Wissenschaft und Gesellschaft: die Schulen und die Lehrerfortbildung. Die Klassik-Seminare der Hamburger Goethe-Gesellschaft sind darin vorbildlich. Sie ermuntern uns, auch in Weimar die Zusammenarbeit mit Schulen und der Lehrerfortbildung auszubauen. Erste Anfänge sind gemacht, Größeres haben wir noch für dieses Jahr vereinbart; wenn das geschehen ist, sollten wir uns mit den erfahrenen Hamburgern austauschen. Ich komme zu Ihrem Hundertsten also nicht nur mit lauter Glückwünschen, sondern auch mit dem eigenen Wunsch, demnächst von ihren Erfahrungen etwas mitzunehmen.
Wenn ich zum Schluss alle Hamburger Goethe-Zeugen zusammenrufe, treten sie zu einer schönen, doch verpassten Gelegenheit zusammen. Sie spielt dort, wo sich die Hamburger Goethe-Gesellschaft seit einigen Jahren trifft: im ovalen Vortragssaal des Warburg-Hauses. Das ist ein ebenso angenehmer wie geschichtsträchtiger Ort. Er war die Herzkammer der bildwissenschaftlich vergleichenden Methode, die der Hamburger Kunsthistoriker Aby Warburg entwickelt hat. Es ging ihm darum, die bildlichen Darstellungstraditionen auf wiederkehrende Motive und Ausdrucksformeln hin zu analysieren.
Ich stelle mir vor, dass dieser Aby Warburg zur Eröffnung seines neuen Hauses im Jahr 1926 die damals noch recht junge Hamburger Goethe-Gesellschaft bei sich versammelt und ihr einen Vortrag über Carus’ Goethe-Denkmal gehalten hätte. Mit seiner Methode wäre er von Carus zu Poussin und Goethes Italienischer Reise gekommen. Wie Carus’ Bild zeigt eines von Poussin einen Sarkophag in der Natur; anders als bei Carus ist es keine Berg-, sondern eine idyllische Hirtenlandschaft und es sind auch keine Engel, sondern Hirten, die sich zu ihm hinabbeugen, um seine Inschrift zu lesen: ‚Auch ich in Arkadien‘, bei Poussin lateinisch: ‚Et in Arcadia ego‘. Man versteht das allgemein als ein Memento mori: Auch im Idyll wohnt der Tod. „Auch ich in Arcadien!“ – mit Ausrufezeichen – ist das Motto von Goethes Italienischer Reise. Dort ist es wohl weniger als eine Todesmahnung, sondern eher als Ausdruck der Lebensfreude zu lesen: der Freude, zum ersten Male selbst südlich der Alpen und im Land der antiken Künste zu sein. In diesen Bezügen hätte Aby Warburg die Pointe von Carus’ Gemälde gesehen: Die motivische Poussin-Adaption – ein Sarkophag in der Natur, zu dem sich Gestalten niederbeugen – ruft implizit das eingravierte Zitat auf und setzt es als stumme Replik gegen Goethes Lebenslust.
Einen solchen Vortrag – und auch noch im Warburg-Haus vor der Goethe-Gesellschaft hat es, soweit ich weiß, nicht gegeben. Doch sich ihn mir vorzustellen zeigt mir aufs Prägnanteste, was das Hamburger Goethe-Gedenken ausmacht: seine intellektuelle, wissenschaftliche, literarische und künstlerische Feinheit. Dass die sich noch lange erhält, wünsche ich Ihnen heute zu Ihrem 100. Geburtstag.
Herzlich, Ihr
Stefan Matuschek