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Neue Bücher, Vermischtes

Wie man sich beim Kindermann Verlag für die „Klassiker“ einsetzt

von Hannes Höfer

Der Kindermann Verlag in Berlin ist seit vielen Jahren ein Garant für Kinderbücher zu klassisch gewordenen literarischen Texten in wunderschöner bibliophiler Ausstattung. Das wissen viele Goethe-Gesellschaften schon lange und nutzen die Bücher des Verlags für ihre Kinderprogramme. Und Kindermann baut sein Angebot immer weiter aus und hält die bereits etablierten Ausgaben durch Neuauflagen präsent. Für einen Überblick hat uns der Verlag eine größere Auswahl an Texten von Goethe und Schiller zu Verfügung gestellt.

Die Texte aus der Zeit um 1800 finden sich in den beiden Reihen „Poesie für Kinder“ und „Weltliteratur für Kinder“. Die „Poesie“ bringt lyrische Texte im Original, die „Weltliteratur“ gekürzte Varianten von längeren, meist dramatischen Werken. Unter den Originaltexten finden sich gerade von den Verfassern Goethe und Schiller die bekannten Balladen. Die Illustratorinnen und Illustratoren versehen mit ihrem je eigenen Stil die Texte mit einer Deutungsebene, die mal lustig, mal ernst, mal verspielt ist, immer aber ein Zugewinn. Aus dem „Ring des Polykrates“ macht Almud Kunert eine bunte Wimmelei, wobei der dicke Tyrann wie eine Witzfigur in seinem Reich herumsteht, das als fantasievolle Miniatur-Welt mit Puppenfiguren an Stäben gestaltet ist.

„Der Taucher“ ist von Willi Glasauer realistischer und nicht so farbensatt gestaltet. Die Meeresungeheuer schauen bei ihm so ungefährlich, ja sogar freundlich aus, dass man zu dem Schluss gelangen kann, dass der junge Taucher am Ende bessere Gesellschaft hat als unter den Menschen. Wobei die junge Prinzessin über den Verlust aufrichtig untröstlich zurückbleibt.

Im „Handschuh“ setzt Jacky Gleich die mittelalterliche Kulisse in einem neusachlichen Gemäldestil in kräftigen Farben um, die Heiterkeit der Bilder unterstreicht, dass sich Schillers Verse bereits gut als Kinderbuchverse eignen. Am Ende bleibt Kunigunde todtraurig zurück und der Ritter zieht gemeinsam mit den Wildkatzen ab. Auch hier stiftet die Undankbarkeit der Menschen neue Freundschaften zwischen Mensch und Tier.

Noch lustiger inszeniert Jenny Brosinski „Die Bürgschaft“. Im Stil schiefer Kinderzeichnungen und indem Vorskizzen und Korrekturen sichtbar bleiben, entsteht eine Dynamik, die den schnellen Fortgang der Handlung aufnimmt, jedoch ins Lustige und Spielerische wendet. So entstehen fantasievolle Wimmelbilder, durch ihre Nähe zum Text fällt dessen Alter deutlicher auf, bzw. kann die Umsetzung die unfreiwillige Komik mancher Verse unterstreichen, wenn bei der Passage „ich lasse den Freund dir als Bürgen – / ihn magst du, entrinn‘ ich, erwürgen“ sieht, wie der König in seiner Ratlosigkeit eine Katze würgt.

Fantastisch überbordend gestaltet Kateryna Yerokhina die weniger bekannte Schiller-Ballade „Die Teilung der Erde“. In diesem Text geht es darum, dass Zeus die Welt aufteilt – und der Dichter gerade zu spät kommt. Weswegen er nichts Materielles mehr abbekommt, aber in Zukunft in der Fantasie- und Götterwelt aus- und eingehen darf. Diese Lizenz hat freilich nicht nur der Dichter, sondern auch die Illustratorin, und ihre Bilder werden zu einer Feier der Fantasie.

„Die Teilung der Erde“ – (c) Kindermann Verlag

Die Landschaften sind umwerfend in ihrer surrealen Raumaufteilung, in sanften und fröhlichen Farben und mit ausschließlich gutmütig blickenden Figuren. Die Gegenden sind durchsetzt mit antiken Tempeln, mittelalterlichen Burgen und eher toskanisch anmutenden Städtchen und verbinden ebenso harmonisch die Zeiten und Epochen, wie Schiller und Goethe es als klassisches Ideal für ihre Literatur postulieren. Und wenn die Betrachterinnen und Betrachter der Bilder noch nicht empfänglich sein sollten für Positionen der Ästhetiktheorie um 1800, gibt es auf jedem Bild genügend andere Überraschungen zu entdecken, und es wird einem bildlich vorgeführt, was es heißt, wenn der Landesherr den „Zehnten“ bekommt, wie man es sicher noch nicht gesehen hat.

Die beiden Goethe-Texte in der Poesie-Reihe sind „Der Zauberlehrling“ und „Der Erlkönig“, beide umgesetzt von Sabine Wilharm. Im „Zauberlehrling“ macht sie das Haus des Zauberers krumm und schief und kurios, wie es sich seit „Harry Potter“ für Zauberhäuser gehört. Das erste Bild zeigt ein enttäuschtes Kind, das hinter einem Mann steht, der konzentriert in einem Buch arbeitet. Am Ende ist der Meister nachsichtig mit seinem beschämten Lehrling und lässt ihn mit ins Buch gucken. So wird aus der Vorlage, die sich dazu eignet, übermäßig neugierige Kinder abzumahnen, ein Angebot an Erwachsene, den ungezügelten Wissensdrang von Kindern nicht nur nachzuvollziehen, sondern auch zu akzeptieren und zu fördern.

„Der Zauberlehrling“ – (c) Kindermann Verlag

Den „Erlkönig“ muss man nicht für Erwachsene umdeuten, sondern für Kinder erträglich machen, denn am Ende stirbt der Knabe (bzw. löst sich seine Silhouette von der Figur), nachdem er von den Fabelwesen bedrängt worden ist. Sabine Wilharm entlastet die Darstellung insofern, als der König zwar ein bedrohliches Wesen ist, er aber von vielen Waldwesen begleitet wird, die eher verspielt und fröhlich wirken als bedrohlich. Und sie entscheidet sich erneut für eine Rahmenerzählung: Die grausame Erlkönig-Geschichte ist der Alptraum eines Jungen, der im Zug eingeschlafen ist und nun wieder aufwacht. Deswegen ähnelt der Erlkönig auch dem etwas kauzigen Nachbarn im Fahrabteil. Am Ende fährt der Zug in Weimar ein und das letzte Bild zeigt den Jungen an der Hand seines Vaters auf dem Bahnsteig. Ob sein Weimar-Besuch der Anlass zu weiteren Alpträumen oder eher zum erneuten Wegdösen ist, erfährt man nicht mehr. Doch scheint sowohl beim „Zauberlehrling“ als auch beim „Erlkönig“ die jeweils ganz anders gelagerte Rahmung sinnvoll, die Wilharm wählt. Denn so werden zwei Goethe-Balladen, die definitiv populär, aber keineswegs kinderfreundlich sind, zu „Poesie für Kinder“.

In der „Poesie“-Reihe findet sich ebenfalls der „Osterspaziergang“ von Goethe, sozusagen als Single-Auskopplung aus dem Konzept-Album „Faust“. Gezeichnet ist er von Klaus Ensikat, der Goethe selbst zum Spaziergänger Faust macht. Zusammen mit Wagner durchstreift er eine noch unwirtliche und sich nur langsam belebende Gegend, mit blassem Himmel und ohne Sonne, die Natur häufig noch kahl, die Gebäude verfallen und die Menschen zwar draußen, aber keineswegs fröhlich. Von den bisher vorgestellten Illustrationen unterscheidet sich Ensikat deutlich, am deutlichsten dadurch, dass es keine „Illustrationen“ des Geschehens sind. Ensikats Bilder beanspruchen einen Eigenwert neben dem Text. Wenn man sich mit ihnen beschäftigt, entdeckt man nicht viele lustige Details, wie auf einem Wimmelbild, man findet vielmehr eine Einladung in die Kunstgeschichte und in unterschiedliche Stile, von der Betrachterinnen und Betrachter jedes Alters profitieren können.

Das zeigt sich vor allem in den Büchern aus der Reihe „Weltliteratur für Kinder“, in denen Klaus Ensikat und Barbara Kindermann kongenial zusammengearbeitet haben, zum Beispiel bei den Schiller-Dramen „Die Räuber“ oder „Wilhelm Tell“: In beiden finden sich unzählige Anspielungen an die Kunstgeschichte, sei es durch direkte Zitate, wie dem Gessler, der in der Szene kurz vor dem Apfelschuss mit seinem Hut direkt der „Arnolfini-Hochzeit“ von Jan van Eyck entstiegen ist, sei es durch allgemeinere Anleihen bei Bildsujets und Darstellungsweisen verschiedener Epochen. Die Ensikat-Bücher lohnen sich als Ausgangspunkt für eine Schule des Sehens und eine Entdeckungsreise in die Welt der Malerei, vorausgesetzt man hat einen kundigen Begleiter, die oder der einem die Bezüge erhellt.

Beim „Tell“ zeigt Ensikat die Tötung des Vogts explizit, ansonsten erfassen seine Bilder das Geschehen eher kurz vor oder nach zentralen Handlungsereignissen. Oder sie machen sich einen Spaß aus unserer Neugier und zeigen in den „Räubern“ das betretene Gespräch von Karl mit seiner geliebten Amalia aus einer Perspektive, die sich lieber das Treppenhaus hinauf flüchtet als die beiden Handelnden zu zeigen und damit immerhin andeutet, welche Fluchtgedanken wohl Karl selbst in dieser Situation hat.
Die Textbearbeitungen von Barbara Kindermann zeigen durch Kursivierung an, welche Teile aus den Vorlagen wörtlich übernommen wurden. Das sind nicht wenige, aber auch nicht immer die zentralen oder sprichwörtlich bekannt gewordenen Passagen. Viel wichtiger ist, dass Kindermann sich mit ihrer Nacherzählung zwar im Umfang einschränken muss, aber stets großartig das grundlegende Handlungsgerüst herausarbeitet.

„Wilhelm Tell“ – (c) Kindermann Verlag

So kann sie völlig überzeugend zeigen, dass es Schiller um einfache dramatische Grundkonflikte geht, mit denen bis heute jeder Kinofilm funktionieren würde. Und die Geschichten von Bruderzwist oder Sorge um die eigene Familie versteht auch jedes heutige Kind problemlos. Dazu – das ist die beeindruckende Leistung von Kindermanns Bearbeitung – muss man Schiller nicht verkürzen oder vereinfachen, sondern schlicht ernst nehmen. Und wenn sich tapfere Leute nachts auf einer Waldwiese in der Schweiz treffen, wird man vom Text so zum mitempfindenden Imaginieren aufgefordert, dass jeder, die oder der schon einmal eine Nachtwanderung erlebt hat, sofort verstehen kann, wie es sich anfühlen muss, sich hier nachts im Wald zu treffen.

„Götz von Berlichingen“ – (c) Kindermann Verlag

Goethe-Texte hat Barbara Kindermann zum Glück auch bearbeitet. Der „Götz von Berlichingen“ ist der aufrichtige Ritter, der sich tapfer (und auch etwas stur) zur Wehr setzt. Gezeichnet ist er von Bernd Mölck-Tassel, bei dem alle Figuren etwas Pummeliges und Stummelbeiniges bekommen. Ritter zu sein, noch dazu mit Helmen mit spitz zulaufenden Schnuten, ist also nicht nur tapfer, sondern auch ein bisschen albern.
Für den „Faust“ hat Kindermann wieder mit Ensikat zusammengearbeitet. Kinderfreundlich werden Fausts Selbstmordgedanken zu Beginn weggelassen und Margarethes Kindsmord umschrieben. Und der Teufel meint es gut mit Faust, er will ihn nicht mit Sensationen abfüllen, sondern ihm zeigen, wie schön das Leben ist. Wie in der Vorlage, ist Faust jedoch zu blind für eine versöhnliche Lebensgestaltung, allerdings weniger krass als in Goethes Version, weswegen der Text ein happy end bereithält: Im Himmel dürfen Margarethe und Faust vereint sein, während der Teufel seine Wette verloren hat.

Ensikat ist mit seinem letzten Bild ganz bei Margarethe, die zwar im Kerker trauert, aber mit einer Ruhe und Gelassenheit den Bildvordergrund beherrscht, dass es den Teufel im Bildhintergrund nur grausen kann. Nur Faust hat noch nicht begriffen, wer hier die Siegerin ist, denn er blickt nicht zu Margarethe, sondern zu Mephisto. Zum Glück weiß das Bild schon mehr als er. Ensikats Bilder sind so detailversessen wie klar und entsprechen damit Kindermanns Erzählweise. Das Duo Kindermann-Ensikat schafft unter den inzwischen fast unüberschaubaren Comic- und Bilderbuch-Adaptionen von Goethes „Faust“ etwas, das man mit der Theater-Inszenierung des „Faust“ von Gustav Gründgens vergleichen kann: So wie diese der Klassiker auf der Bühne geworden ist, wird man Kindermann-Ensikat als den Bilderbuch-Klassiker des „Faust“ bezeichnen können.


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