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Goethe, Iphigenie und das antike Drama – Studientage in Rom mit dem Bildungsforum Oßmannstedt

von Ulrike Grohall

Dezember 1786, Rom: die Stadt zählt etwa 150 000 Einwohner, auf dem Forum grasen Schafe, viele Zeugnisse der Antike sind unter Schutt begraben und es herrschen raue Sitten – und Goethe vollendet die Versfassung seiner „Iphigenie auf Tauris“. Sie ist sein erstes Werk auf italienischem Boden und wird wegweisend für ein neues humanistisches Bildungsideal. Für Goethe ist damit eine lange Zeit der künstlerischen Stagnation überwunden – Rom bringt ihm die erhoffte Befreiung von der Weimarer Enge und den Aufbruch in eine neue Schaffensphase.

Wo, wenn nicht hier, könnte man sich also besser mit diesem Werk befassen? Vom 12. bis 17. Oktober 2024 versammelten sich 13 Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer und einige weitere Interessierte in Rom, um sich literarisch inspirieren zu lassen – durch wissenschaftliche Impulse, gemeinsame Textarbeit und viel Diskussion – fachkundig angeleitet von Hannes Höfer (Goethe-Gesellschaft in Weimar), Francesca Müller-Fabbri (Klassik Stiftung Weimar) und Marc Grohall (Bildungsforum Oßmannstedt), mit Gastbeiträgen von Gabriella Catalano (Universität Rom II) und Claudia Nordhoff (Casa di Goethe).

Goethe wohnte damals am Corso in einer Art Künstler-WG; u. a. zusammen mit dem Maler Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, der in Rom sein berühmtes Goethe-Porträt „Goethe in der Campagna“ schuf. In diesen Räumlichkeiten befindet sich heute die „Casa di Goethe“ – Museum, Bibliothek, Forschungszentrum und Tagungsort in einem. Herzlich aufgenommen von Gregor Lersch, dem Direktor der Casa di Goethe, fand die Gruppe hier ideale Tagungsbedingungen.

Die inhaltliche Arbeit der Studientage drehte sich um vier große Themenbereiche: Menschenbild und Humanismus in der „Iphigenie“; ein neues Bildungsprogramm entsteht: der Einfluss der bildenden Kunst; „Iphigenie“ als „neuer Mythos der Weiblichkeit“ und ihre Wirkung auf weibliche Protagonistinnen der Zeit; Diskussion der Begriffe Klassik – Klassizismus – Aufklärung.

In den Diskussionen um Menschenbild und Humanismus, angeleitet von Hannes Höfer, wurde anhand von konkreter Textarbeit deutlich, dass die „Iphigenie“ als Befreiungswerk gelesen werden kann – propagiert sie doch eine neue Menschlichkeit durch radikale Ehrlichkeit und Orientierung an der Humanität. Von außen auferlegte Zwänge, etwa durch Götter oder weltliche Herrscher, verlieren ihre absolute Autorität; Herz und Verstand geben fortan die Richtung vor.

Diese Position wird besonders glaubwürdig von einer Frau (Iphigenie) vertreten, die zwar Priesterin ist, aber doch in einer von Männern dominierten Welt und in Gewalt eines Königs (Thoas) eine eher machtlose Position hat. In dieser Welt setzt sie sich mit Verstand und Aufrichtigkeit durch und wird so nicht nur für ihre Begleiter und Thoas zum Vorbild, sondern auch zur Begründerin eines neuen Menschen- und Bildungsideals.

Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde damit unmittelbar verständlich, wieso die „Iphigenie“ als ein „neuer Mythos der Weiblichkeit“ verstanden werden kann und große Wirkung, insbesondere auf Frauen, ausübte. Francesca Müller-Fabbri legte anschaulich dar, wie Ottilie von Goethe, Adele Schopenhauer und andere progressive Frauen ein neues Selbstverständnis als intellektuell und künstlerisch aktive Frauen entwickelten, inspiriert u. a. von Goethes „Iphigenie“. Zum Teil haben sie in Rom für einige Zeit in einer Art Frauen-WG direkt an der Fontana di Trevi gewohnt und gearbeitet.

Claudia Nordhoff führt durch die Casa di Goethe – zur Freude der Teilnehmenden. Foto: Andrea Veneri

Ein weiteres Highlight im Programm war die Führung von Claudia Nordhoff durch die Ausstellungsräume in der Casa di Goethe; in ihren Ausführungen wurde das Rom der Goethezeit lebendig, es wurde nachvollziehbar, welche Bedeutung die Zeit in Rom für Goethe hatte und wie sehr Goethes Erfahrungen zum Fixstern für alle folgenden Rom-Reisenden wurden.

In einem Gast-Vortrag von Prof. Dr. Gabriella Catalano wurden außerdem einige von Goethes Einsichten herausgearbeitet, die er anhand seiner Erfahrungen in Italien und insbesondere in Rom gewann. Ein Streben nach Totalität scheint dabei zentral gewesen zu sein. So wie Goethe in Italien die Vorstellung von einer Urpflanze entwickelt, auf die sich alle anderen Pflanzen zurückführen lassen, versucht er auch seine unterschiedlichen und heterogenen Eindrücke in Rom zu einer umfassenden Einheit zu verschmelzen.

In einer lebhaften Abschlussrunde wurden die – vor allem in der Schule liebgewonnenen – Epochenbegriffe kritisch beleuchtet und auf ihre Tauglichkeit hin geprüft. Das neue Angebot der Wissenschaft, den „Klassik“ Begriff eher als Wertungs- denn als Epochenbegriff zu begreifen, und stattdessen lediglich „Aufklärung“ und „Romantik“ als Epochenbegriffe zu verwenden, wurde kontrovers diskutiert. Wenn auch nicht gleich alle überzeugt waren, so hat es doch für alle intensive Denkanstöße gebracht.

Neben der inhaltlichen Arbeit an der „Iphigenie“ war selbstverständlich genügend Zeit für die Erkundung der Stadt. Gemeinsame Spaziergänge mit kurzen Impulsvorträgen von Francesca Müller-Fabbri und Marc Grohall führten die Gruppe zur Fontana di Trevi, auf den Gianicolo, zur Spanischen Treppe und zum Forum Romanum. Dass man die Eindrücke abends gemeinsam im Restaurant bei der ein oder anderen Flasche Wein nachhallen ließ, versteht sich von selbst.

Die Teilnehmer freuen sich bereits auf die nächste Fahrt nach Rom, vom 12. bis 16.10.2025, mit dem Thema „Goethe, ‚Wilhelm Meister‘ und der Bildungsroman“. Wieder unter Anleitung von Hannes Höfer und Marc Grohall und mit der Casa di Goethe als Gastgeber. Anmeldungen werden ab sofort entgegengenommen.


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