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Nur ein spannendes Gedankenspiel? Zu einer Veröffentlichung von Rüdiger Wartusch

von Jochen Golz

Unter dem Titel „Bergschluchten des oberen Peneios“ hat Rüdiger Wartusch ein Büchlein veröffentlicht, dessen Untertitel „J. J. Björnståhls Tagebücher und Briefe als Quelle für Faust II“ einen nicht geringen Anspruch anmeldet. Goethes nachgelassene Tragödie gehört zu den nahezu perfekt erschlossenen Texten der deutschen Literatur. Albrecht Schönes Kommentar in der „Faust“-Edition des Deutschen Klassikerverlags hat einen wissenschaftlichen Maßstab gesetzt, der so leicht nicht zu übertreffen sein wird.

Wartusch ist sich seines Risikos durchaus bewusst. Was ihm in die Hände gefallen ist, sind Berichte eines schwedischen Orientalisten, der im 18. Jahrhundert Thessalien besucht und dort auch den Tod gefunden hat, dessen Aufzeichnungen jedoch nach seinem Tod in mehreren Bänden veröffentlicht werden konnten und auch in zeitgenössischer deutscher Übersetzung vorliegen. Goethe hat den entsprechenden Werktitel notiert, als er wissenschaftliche Vorbereitungen für seine dritte Italienreise traf, die nicht zustande kam, weil Napoleons Truppen in Norditalien eingefallen waren.

Wartusch, offenkundig ein leidenschaftlicher Griechenland-Tourist, hat jene hochgelegenen orthodoxen Klöster aufgesucht, die auch Björnståhl beschrieben hat. Fasziniert von deren Geschichte und Gegenwart, ist „dem urlaubenden Bücherwurm“ (S. 15) der Gedanke gekommen, diese beeindruckende Berglandschaft mit Goethes imaginierter Bergwelt in „Faust II“ zu verknüpfen; nicht nur die Klassische Walpurgisnacht, auch die Szene „Bergschluchten“ könnte, so Wartusch, von einer Björnståhl-Lektüre Goethes Anregungen empfangen haben. Er ist nicht der erste, der sich der Frage gewidmet hat, welche Quellen Goethes antikischen Phantasmagorien zugrunde liegen könnten; die Bibliographie am Ende seines Buches gibt darüber Auskunft. Doch von der Notiz des Werktitels abgesehen fehlt jeder Beweis, dass Goethe tatsächlich Björnståhls Aufzeichnungen für sein Schreiben herangezogen hat. Wir wissen nicht einmal, welche Bedeutung die Notiz für die von Goethe geplante kulturhistorische Italiendarstellung hätte haben können. Dass es 1774 zu einer persönlichen Begegnung mit Björnståhl in Frankfurt kam, hat die ältere Forschung ermittelt. Dass Goethe, wie Wartusch mutmaßt (S. 48), damals oder wenig später dessen Briefe und Tagebücher gelesen hat, ist durch nichts erwiesen. Ein Blick in das Goethe-Wörterbuch hätte ihn darüber belehren können, dass das Wort „Grünigkeiten“ (für frisches Gemüse oder Grünzeug) nicht nur in der deutschen Björnståhl-Übersetzung auftaucht, sondern damals zum gängigen Sprachschatz gehörte. Zu bedenken bleibt auch, dass der zeitliche Abstand zwischen den ephemeren Björnståhl-Bezügen und der Arbeit an „Faust II“ riesengroß ist, ein unmittelbarer Einfluss auf den Text ausgeschlossen werden kann, selbst wenn man Goethes phänomenales Erinnerungsvermögen ins Kalkül zieht. 1808 erscheint bei Bertuch in Weimar ein kleiner Zeitschriftenartikel über Björnståhl, dem Wartusch große Bedeutung zumisst. „Hat dieser Artikel“, so fragt er, „Goethes Aufmerksamkeit erneut auf die Briefe und Tagebücher des schwedischen Orientalisten lenken können, hat er vielleicht sogar die Suche nach Berichten und Abbildungen von den so dramatisch gelegenen Klöstern angeregt? Hat Björnståhls Beschreibung der ‚schwebenden‘ Mönche Goethe ähnlich fasziniert wie uns profane Reisende? […] Diese Fragen bleiben zumindest ein spannendes Gedankenspiel“ (S. 50f.).

Dem Goethe-Touristen und Wartusch-Leser, der heute die thessalische Ebene aufsucht und wie Wartusch der Faszination der schier unerreichbar erscheinenden orthodoxen Bergklöster erliegt, mag der Gedanke nicht abwegig erscheinen, dass dem Autor von „Faust II“ tatsächlich jene Weltgegend vor Augen gestanden haben könnte. Am Ende aber muss es bei der Antwort bleiben, die Wartusch, der durchaus mit Empathie und Witz schreibt, sich selbst gibt: es bleibt „zumindest ein spannendes Gedankenspiel.“

(c) Wehrhahn Verlag

Rüdiger Wartusch
Bergschluchten des oberen Peneios. J. J. Björnståhls Tagebücher und Briefe als Quelle für Faust II. Eine Reise mit Goethe zu den Klöstern von Metéora

Hannover 2024
62 Seiten
ISBN 978-3-98859-059-6

Preis: 10,00 €


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