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„Zum Nachtisch den Orden“ – neue „Jahresgaben“ der Goethe-Gesellschaft Bonn
Wie aktuell Goethe ist, wie sehr sein Werk Wissenschaftler und Literaturfreunde global inspiriert, „Weltliteratur“ in seiner Tradition zu pflegen, beweisen einmal mehr die „Jahresgaben“ aus Bonn. Diesmal versammeln sie anschaulich und reich illustriert Beiträge der Jahre von 2019 bis 2023. An den 6 Aufsätzen wird deutlich, dass Goethe in vielen Bereichen Diskussionen führte oder anregte, die uns noch immer beschäftigen.
Das beginnt mit dem Essay von Francesca Fabbri „‚mein liebes Adelchen!‘ Adele Schopenhauer als Korrespondentin Johann Wolfgang von Goethes in den ‚Bonner‘ Jahren“ (S. 9–46). Besucher des Goethe- und Schiller-Archivs erinnern sich an die umfangreiche Ausstellung „‚Weil ich so individuell bin‘. Adele Schopenhauer“ im Jahr 2019, der ausführliche und üppig bebilderte Begleitband „Adele Schopenhauer. Unbekanntes aus ihrem Nachlass in Weimar“ von Francesca Fabbri und Claudia Häffner erschien damals. Adele Schopenhauers Bonner Freundin Sibylle Mertens-Schaaffhausen hatte Teile ihrer eigenen Hinterlassenschaft und der von Adele Schopenhauer dem Archiv übereignet.
Im Rahmen der Korrespondenz mit Goethe zeichnet Francesca Fabbri das Bild zweier künstlerisch überaus begabter und wissenschaftlich ambitionierter junger Damen, mit denen Goethe als Forscher, Kunstsammler und Sachverständiger auf Augenhöhe korrespondieren konnte, etwa über mineralogische Fragen oder Aspekte bildender Kunst. Goethe war wissbegierig genug, wichtiger aber noch: gebildeten Frauen gegenüber unvoreingenommen und dankbar, ihre Unterstützung anzunehmen. Er sah in ihnen nicht lästige Rivalinnen oder Konkurrentinnen, sondern Partnerinnen, auf deren Hilfe er zählen konnte. Freute sich, dass sie großzügig bereit waren, seine Sammlungen zu ergänzen.
Hilfreich und erhellend ist es auch, den Bericht von Young-Ae Chon aus Südkorea noch einmal nachlesen zu können. „Grenzgänge der Übersetzung“ ist er mit fast britischem Understatement überschrieben (S. 47–67). Dahinter verbirgt sich eine beeindruckende und anschauliche Darstellung, welche Mühen und diffizilen Probleme es zu bewältigen gilt, will man einem Text aus einem anderen Kulturkreis und weit früherer Zeit in der Übertragung gerecht werden. Als Autor war Goethe zu seiner Zeit mit einem anderen Sprachgebrauch konfrontiert, als er heutigen Bundesbürgern geläufig ist. Dass Young-Ae Chon daneben auch versuchte, Versmaß und Reimschemata in einer Weise wiederzugeben, die ihren Landsleuten Goethes Werk auch ästhetisch, in seiner speziellen sprachlichen Kunst nahebrachte, hat ihr die selbstgestellte Aufgabe nicht gerade erleichtert. Abgedruckte Schriftbilder der koreanischen Ausgabe lassen erahnen, wie weit sich der Bogen spannte oder die Brücke zu schlagen war.
Anhand deutscher Ausdrücke wie „Fräulein“ oder „Pfaffe“ wird das sofort deutlich. Wie übersetzt man sie, um möglichst viele Nuancen zu wahren und ohne dabei Geistliche oder Anhänger von Religionen zu verprellen, denen der eher abschätzige Begriff „Pfaffe“ missfallen könnte. Im Lauf der Jahre haben sich ihr Gebrauch und ihre Bedeutung hierzulande gewandelt, dafür adäquate Äquivalente zu finden, war eine Kunst, Nach-Dichtung oft mehr als Übersetzung, wie sie Computer-Programme eben nicht erbringen würden; man kennt dergleichen zur Genüge. In welchem Rahmen ihre Leser in Südkorea diese Leistungen genießen können, machen einige Abbildungen deutlich, im Weimarer Blog hatte Young-Ae Chon über ihr „Haus des jungen Goethe“ berichtet.
„Goethe als Manager“ stellt Georg Schwedt vor (S. 69–82). Dank bewundernswerter Disziplin und eines streng geregelten Tageslaufs, der die konsequente Einbindung von Dienern und anderem Personal wie auch Frau und Kind, später der Schwiegertochter erforderte, war Goethe in der Lage, sein eigenes Werk voranzutreiben und das weit gespannte Netzwerk mit seinen Partnern in der ihm bekannten Welt zu pflegen. Nicht nur „als verbeamteter Manager“ (S. 69) bis zur Italienischen Reise 1786 mit breitem Aufgabenspektrum tritt er uns hier lebendig vor Augen, sondern auch als „Zeitmanager“ (S. 73), der seinen Tag penibel zu strukturieren wusste. Und ebenso als „Der private Geschäftsmann“ (S. 81) war der Dichter überaus erfolgreich, stets unterstützt von den jeweiligen dienstbaren Geistern im Haus, die neben Diktaten auch die Buchhaltung übernahmen.
Helmut Schanze folgt Goethes Spuren nach seinem – wieder einmal – fluchtartigen Aufbruch aus Wetzlar: „Goethe an der Lahn – Zwischen ‚Werther‘ und Sonntagspredigt“ (S. 83–99). Jedenfalls notierte Johann Christian Kestner, der Verlobte von Charlotte Buff, pikiert in seinem Tagebuch, der Freund sei „weggereist, ohne Abschied zu nehmen“ (S. 83). An Main, Lahn und Rhein war Goethe als „Weltkind in der Mitten“ mit Johann Bernhard Basedow und Johann Caspar Lavater unterwegs, traf Pietisten wie Susanne Katharina von Klettenberg, besuchte Sophie von La Roche und deren Tochter Maximiliane. In diesem theologisch und erotisch komplizierten Spannungsfeld, angeblich hat Werthers „Lotte“ ihre schwarzen Augen literarisch von „Maxe“ geerbt, untersucht Helmut Schanze die Entstehung von Goethes „Bestseller“.
Das Manuskript des „Werther“ hatte Goethe weitgehend vollendet. Lavater genoss das Privileg, in Frankfurt und später in Bad Ems, als einer der ersten Freunde und Vertrauten Goethes das Werk lesen zu dürfen. Helmut Schanze hat die Dokumente ausgewertet: „Im Tagebuch Lavaters lassen sich die Stadien der fortgesetzten Lektüre verfolgen, seine Faszination und sein Urteil.“ (S. 85) Lavater hat Bad Ems aus medizinischen Gründen aufgesucht, wurde aber auch als bekannter Prediger eingeladen, von dem man sonntägliche Auftritte erwartete. Helmut Schanze geht davon aus, „der ‚Geistliche‘ Lavater“ sei nicht nur der erste Leser des „Werther“ gewesen, sondern „ihre Bruderschaft und ihr Bruch“ hätten „bei Konzeption und Ausführung des ‚Werther‘ eine bisher kaum beachtete Rolle“ gespielt (S. 86).
Detailliert belegt Helmut Schanze, wie Goethe in seinen Roman Zitate und Bilder aus der Bibel montiert. Natürlich geht er dabei mit Motiven und Begriffen der „Heiligen Schrift“ recht eigenmächtig um, spielt seine dichterische Freiheit mit Vergnügen aus. Diese ihm ungewohnten Sichtweisen und Interpretationen dürften den Theologen Lavater einigermaßen irritiert haben, zumindest überliefert sein Tagebuch, dass er mehrfach geselligen Runden seiner Gesprächspartner verließ, um sich ungestört der offenbar spannenden Lektüre widmen zu können.
Nicht ohne Witz übernimmt Michael Wetzel einen Begriff aus der Astronomie, um eine der bis heute bekanntesten Figuren Goethes zu charakterisieren: „Mignon – Goethes romantischste Aberration“ (S. 101–117). Sie sei „der gewagteste Vorstoß auf das poetische Terrain der Romantik, den Goethe je gewagt hat“ (S. 101). Als Kombination von „kindlicher Unschuld mit verführerischer Anmut“ (S. 102) tritt Mignon auf. Inhaltlich spielen Homoerotik und Knabenliebe als angedeutete Motive eine Rolle, auch in biografischer Hinsicht. So weist Michael Wetzel auf einen Brief Lavaters an Herder hin, er berichtet, dass der Dichter zu Beginn seiner Karriere hinter vorgehaltener Hand in Weimar als „‚Mignon‘ des Herzogs“ (S. 102) bezeichnet wurde.
Unklar ist vor allem auch das Geschlecht der Figur, weil „die Verwendung des Personalpronomens ständig schwankt, mal ‚es‘, mal ‚er‘, oft aber auch ‚sie‘ favorisiert“ (S. 102). Offenbar störten sich Germanisten an der Zwitterhaftigkeit dieser zu allem Überfluss auch noch positiven Figur: „Man hat das als Fehlen einer redaktionellen Überarbeitung zu erklären versucht“ (S. 102). Goethe, wird zu seinen Gunsten und seiner ideologischen „Ehrenrettung“ unterstellt, war als Autor wohl nachlässig, verfehlte versehentlich tradierte und verlangte Klischees. Offenbar provozierte diese schillernde Gestalt, die Goethe in den „Wanderjahren“ als „Knaben-Mädchen“ oder „Schein-Knaben“ (S. 103) qualifiziert, Verfechter angeblich göttlicher Moral-Gesetze. Goethe löste damals eine ähnliche Kontroverse aus, wie sie im Bundestag ein Vierteljahrtausend später 2024 zu vernehmen war, als engagiert und mit hochkochenden Emotionen über „sexuelle Selbstbestimmung“ in Bezug auf den „Geschlechtseintrag“ debattiert wurde.
Allein, nicht „Erfinder der Ikonographie der Kindsbraut“ sei Goethe gewesen, sondern habe sie aus „unzähligen Aspekten und Spuren“ montiert (S. 103). Auf Georg Christoph Lichtenberg und sein reales Verhältnis zu der „kleinen Stechardin“ verweist Michael Wetzel. Mignon wird im Roman von Philine als „Rätsel“ präsentiert (S. 105). Ihre Krankheit und ihr Tod lassen sich als „physische Herzinsuffizienz“ deuten oder aber als Ausdruck „einer sexuellen Metaphorik […], wie sie Freud an den Anfällen der Hysterikerinnen beobachtet hat“ (S. 107).
Der ausführliche Bericht über „Goethe in Wiesbaden 1814 und 1815“ von Carsten Stahmer (S. 119–136) bildet einen letzten Höhepunkt der absolut lohnenden Lektüre dieser „Jahresgaben“. Mit einer Abbildung Goethes, stolz präsentiert er sich mit einem in dem Kurort empfangenen Orden, beginnt der Aufsatz, um gegen Ende mit einer die Ehrung relativierenden privaten Notiz aufzuwarten: „Am 1. August 1815 schrieb Goethe ganz trocken in sein Tagebuch: ‚Mittag Cursaal. H. v. Hügel, zum Nachtisch den Orden‘“ (S. 131).
An Hand dieser Beiträge aus 5 Jahren wird deutlich, warum Goethe nicht nur zu Lebzeiten seine Leser begeistern konnte, bevor er als „Klassiker“ unantastbar auf einen Sockel entrückt war: Weil er gängige Klischees hinterfragte, in Werk und Leben frei und selbstständig dachte, formulierte und handelte. Er respektierte Leistungen von Frauen, stellte einen Selbstmörder und das Zwitterwesen Mignon sympathisch dar, kritisierte nicht nur im „Werther“ Dünkel der feudalen Gesellschaft, sondern nahm auch deren weitere Orden mit diskretem Humor entgegen. Der Band belegt, wie vielfältig die Wege sein mögen, sich dem Autor Goethe zu nähern und wie reizvoll es sein kann, in einem Netzwerk nicht nur Angebote der eigenen Vereinigung „vor Ort“ wahrzunehmen, sondern auch „Kirschen in Nachbars Garten“ zu suchen – fast wieder in der Tradition Goethes, denkt man an die Bitte um das „Fläschchen“ oder auch „Marthens Garten“ …
Goethe-Gesellschaft Bonn (Herausgeber)
Jahresgaben der Goethe-Gesellschaft Bonn 2019/2023
Siegburg, Bonn 2024
142 Seiten
ISBN 978-3-945426-76-0
Preis: 21,19 €