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Im Fokus: Goethes Farbenlehre
Es ist schon zur guten Tradition geworden, dass zahlreiche deutsche Ortsvereinigungen ihre Mitglieder mit sorgfältig gestalteten, inhaltsreichen Jahresgaben erfreuen. Vor kurzem wurden die Weihnachtsgabe der Goethe-Gesellschaft Hochrhein und die Jahresgabe der Ortsvereinigung Hamburg vorgestellt. Ein weiteres gelungenes Beispiel stellt die kleine, aber feine Jahresgabe aus Kassel dar, mit der ihr Autor Stefan Grosche seinen Mitgliedern ein schönes Geschenk gemacht hat.
Ihr Gegenstand sind Goethes Bemühungen um einen wissenschaftlichen Zugang zu Farbphänomenen, die etwa um 1790 ihren Anfang nahmen, ihn sogar auf den Schlachtfeldern in Frankreich nicht losließen und ihn bis in sein Alter begleitet haben. Ihre monumentale Gestalt fanden sie in der 1810 veröffentlichten „Farbenlehre“, die Goethe für sein bestes Werk hielt. Seit ihrem Erscheinen ist der Streit darüber nicht verstummt, sind zahlreiche Bücher herausgekommen, die teils für Goethe und gegen Newton, teils für Newton und gegen Goethe Partei nehmen. Nur im Ausnahmefall wird Goethes Herangehen als selbständige wissenschaftliche Methode verstanden, die auf eigene Weise abseits der Newton’schen Physik der Farben Geltung beanspruchen kann.
Stefan Grosche war gut beraten, sich in diese grundsätzliche Debatte nicht hineinzubegeben, sondern sich einem speziellen Geschehen zu widmen, bei dem gleichwohl auch Grundsätzliches zur Sprache kommt. Im Mai 1820 erwarb Goethe – häufiger Gast in den böhmischen Bädern – beim Karlsbader Glasmaler und Händler Andreas Vinzenz Peter Mattoni einen heute im Goethe-Nationalmuseum befindlichen „Glasbecher, worauf eine Schlange gemalt war, welche, je nachdem man sie gegen Licht oder Schatten hielt, die Farben gar anmutig wechselte“ (S. 1) – so Goethe in seinem Brief an Mattoni vom 9. März 1821, in dem er ein Phänomen beschreibt, das er bereits in den Paragraphen 150 und 151 seiner „Farbenlehre“ (bei Grosche S. 1 wiedergegeben) festgehalten hatte. Ausführlicher hat Goethe den Wechsel von Gelb und Blau bzw. von Grün und Violett – für ihn ein „Urphänomen“ – 1822 unter der Überschrift „Trüber Schmelz auf Glas“ in seiner Zeitschrift „Zur Naturwissenschaft überhaupt“ dargestellt (bei Grosche S. 2f. dokumentiert)
Die besondere Faszination, die der Becher auf Goethe ausübte, lag darin, dass es in diesem Falle nicht einer ausgetüftelten Versuchsanordnung bedurfte, um die Farberscheinungen zu demonstrieren, sondern dass sie bei wechselnder Beleuchtung an einem künstlerischen Gegenstand wahrzunehmen waren. Als der in Dresden wirkende „Arzt, Naturforscher und Landschaftsmaler“ Carl Gustav Carus auf dem Weg nach Italien am 21. Juli 1821 bei Goethe zu Gast war und dieser ihm das Glas präsentierte, hielt Carus mit dem Auge des Malers seine Eindrücke fest (hier S. 4).
Zwischen Mai 1820 und Oktober 1821 bemühte sich Goethe um die Herstellung von insgesamt 11 solcher Gläser, weil er sie „an Freunde und Förderer seiner Farbenlehre als hoch symbolisches Geschenk versenden wollte“ (S. 4). Zwar erhielt er die gewünschte Anzahl, doch die Qualität der Trinkgläser entsprach nicht seinen Wünschen. „Mit den kunstreich getrübten Trinkgläsern“, so schrieb er am 23. März 1822 an den Berliner Hegel-Schüler Leopold von Henning, einen der wenigen akademischen Propagandisten von Goethes Farbenlehre und darum von diesem sehr geschätzt, „ist es mir vergangenen Sommer in Böhmen nicht geglückt; unter einem Dutzend sind bloß zwei einzige, die das Phänomen vollkommen darstellen […].“ Damit reduzierte sich der Kreis der potentiellen Geschenkempfänger auf zwei auserwählte Persönlichkeiten.
Wem wurde nun diese Ehre zuteil? Als erster ist der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel zu nennen, mit dem Goethe seit dessen Jenaer Lehrtätigkeit in geistigem Austausch stand. Am 24. Juni 1821 ging die Sendung ab. Berühmt geworden ist die das Geschenk begleitende eigenhändige Widmung: „Dem Absoluten / empfielt sich / schönstens / zu freundlicher Aufnahme / das Urphänomen. / Weimar Sommers Anfang 1821“. (S. 14). Abgebildet sind bei Grosche sowohl das Trinkglas als auch die faksimilierte Widmung. In einem Brief vom 2. August 1821, den Grosche im Anhang zugänglich macht, bedankt sich der Philosoph für das „wohl verpackte schöne Geschenk“, das „unversehrt angekommen“ sei (S. 20). Dieser umfangreiche Brief ist aller Aufmerksamkeit wert, stellt er doch so etwas wie einen (nicht unkritischen) erkenntnistheoretischen Kommentar zu Goethes Farbauffassungen dar. Bei dieser Gelegenheit kann Grosche auch mit einer alten Legende aufräumen. Im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befindet sich in dessen dinglichem Bestand ein Trinkglas, das der Familienüberlieferung nach ein Geschenk Goethes an Hegel sein soll. Nun hat dieses Trinkglas, bei Grosche ebenfalls abgebildet, nicht das Schlangenmotiv, und auch sonst ist seine Provenienz nicht zweifelsfrei aufzuhellen. In diesem Fall muss sich Marbach wohl von dem Anspruch verabschieden, ein von Goethe abgesandtes Geschenkglas zu besitzen. So hat Grosches sorgfältig dokumentierte Darstellung auch eine aktuelle Pointe. Das zweite Glas erhielt, so Grosches überzeugende Beweisführung, der Berliner Staatsrat Christoph Ludwig Friedrich Schultz nicht schon bei seinem Arbeitsbesuch in Weimar zwischen dem 1. und 8. Juli 1821, sondern erst per Post nach dem 4. November 1821. Weitere Nachbestellungen des Glases genügten Goethes Ansprüchen wiederum nicht.
Grosches Anhang enthält eine „Chronologie der Bemühungen Goethes um das ‚Karlsbader Trinkglas‘“, einen (faksimilierten) Brief von Mattoni an Goethe vom 6. Juni 1821, einen Brief Goethes an Hegel und einen Antwortbrief, ein „Verzeichnis gegenwärtigen Vorrats an opalisierenden Gläsern bei den Glashändlern in Karlsbad“, für Goethe von Riemer unter dem 11. August 1821 zusammengestellt, die Abbildung eines Schlangenmotivglases aus dem Frankfurter Goethe-Museum, das aber nicht von Goethe bestellt worden ist, Zeugnisse zu den „opalisierenden“ Gläsern Goethes sowie ein Literaturverzeichnis. Da bleiben keine Wünsche offen.
Lebendig und anschaulich ist Grosches Darstellung geschrieben, ohne deshalb den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit einzubüßen. Von einem Detailproblem ausgehend wird uns ein wesentliches Element von Goethes Farbauffassung vor Augen geführt. Der kleinen Schrift ist über den Kreis ihrer Kasseler Empfänger hinaus Verbreitung zu wünschen.
Stefan Grosche
Goethes „Hokuspokus … mit dem trüben Glas, worauf eine Schlange“. Eine Objektgeschichte
Kassel 2022
30 Seiten
ISBN 978-3-95978-086-5
Schriften der Goethe-Gesellschaft Kassel