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Facetten des Realismus … ein Seminar und eine Jahresgabe der Hamburger Ortsvereinigung

von Andreas Rumler

Immerhin legt die Ortsvereinigung Hamburg mit der Jahresgabe 2019 unter dem Titel „Realismus und Bürgertum“ bereits die Dokumentation ihres 21. Klassik-Seminars vor – da ist es wohl angebracht, von einer Erfolgsgeschichte zu sprechen. Gegen Ende des Jahres bieten die Hanseaten ihren Mitgliedern und Freunden regelmäßig an einem Wochenende vier Vorträge zu literarhistorischen Themen an, seit 2005 dienen sie zugleich der Lehrerfortbildung. Häufig stehen dabei literarische Epochen oder Leben und Werk eines Dichters im Mittelpunkt. Für die 21. Tagung vom 21. und 22. September 2018 konnte die Ortsvereinigung unter der Leitung von Ragnhild Flechsig für ihre rund 220 Mitglieder wieder vier namhafte Referenten gewinnen. Sie untersuchten aus unterschiedlichen Perspektiven, wie bürgerliche Autoren die Gesellschaft ihrer Zeit und deren Ideologie(n) wahrnahmen und darstellten.

Gert Sautermeister informierte sein Publikum über das Thema: „Bürgerlicher und poetischer Realismus in Gottfried Kellers Novelle ‚Romeo und Julia auf dem Dorfe‘“ (S. 9 – 26). Literatursoziologisch detailliert analysiert er dabei, wie sich vier zentrale Motive des bürgerlichen Realismus explizit in der Erzählung nachweisen lassen: erstens die Arbeit, dann Geld und Geschäft, drittens das mitunter prekäre Verhältnis von Geschäft und Moral sowie viertens die sozialen Verhältnisse in der dörflichen Gemeinschaft. Konkret geht es dabei um „Heimatlose“, die kein Recht haben, sich in der Gesellschaft anzusiedeln als „verachtete Außenseiter, in einer Gemeinde nur vorübergehend und widerwillig geduldet“. (S. 12)

Wiederholt haben Literaturkritik und Germanistik dieser Novelle und ihrem Autor Keller einen thematischen und inhaltlichen Bruch attestiert: zwischen dem Realismus in der Darstellung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen einerseits und andererseits in dem vermeintlichen Romantizismus der (leider unglücklichen) Liebesgeschichte. Gert Sautermeisters Anliegen ist es nun, nachzuweisen, dass zwischen den „Erzählteilen Kellers“ eine „innere Logik“ (S. 10) bestehe. Dafür eigne sich die Verwendung der Begriffe „Bürgerlicher Realismus“ und „Poetischer Realismus“, um „das freie Spiel der Phantasie hervorzuheben, das die Individuen im Rahmen der dargestellten Wirklichkeit entfalten: ein Spiel, das über die Zweckbindungen des Alltags hinausreicht und eine relative Autonomie für sich beansprucht.“ (S. 11) „Gerade das Spannungsverhältnis der Begriffe“ lasse die „innere Notwendigkeit des Erzählgeschehens hervortreten“ (S. 11). 

Letztlich werden die Liebenden Opfer einer Gesellschaft, an deren starren Standes- und Moralnormen sie scheitern; sie können ihre zunächst kindliche Zuneigung nicht als Erwachsene in eine bürgerliche Ehe münden lassen und wählen den gemeinsamen Freitod. Beide stammen eigentlich aus wohlhabenden Bauernfamilien; ihre Väter haben sich allerdings beim Streit um ein Stück Land zerstritten und unversöhnlich verfeindet, haben bei dieser Auseinandersetzung ihre Vermögen eingebüßt. Weil die jungen Leute deshalb arm sind, stehen sie außerhalb der begüterten bürgerlichen Gemeinschaft und könnten sich nur als Handlanger verdingen, hätten keine materielle Basis für eine gemeinsame glückliche Zukunft. Mit dem Erbe haben sie ihre Heimat und gesellschaftliche Anerkennung verloren. Dass Gottfried Keller ihr Verhalten am Ende, den Freitod, nicht verurteilt, sondern mit „einem versöhnlichen Glanz“ (S. 24) sogar noch behutsam glorifiziert, hat ihm harsche Kritik eingetragen: es sei „ein Zeichen von der um sich greifenden Entsittlichung und Verwilderung der Leidenschaften“ (S. 25). 

Interessant ist dabei besonders, wie Keller den Schluss seiner Novelle in der zweiten Fassung verändert hat. Entsprechend der „pfäffischen rechthaberischen Verurteilung, die dem moralisch beschränkten Zeitgeist in Kellers Epoche entsprach“ (S. 25), hatte der Autor in der ersten Fassung 1856 den Freitod als typisches Verhalten des „niedern Volkes“ (S. 25) abgetan und damit kritisiert. Zwar werde er im Sinne des „poetischen Realismus“ als „Herzenssache“ noch „in Schutz“ (S. 25) genommen, aber nach den Vorstellungen des „bürgerlichen Realismus“ (S. 25) gleichzeitig als Versagen charakterisiert: „Entsagung, Mühe und Arbeit“ (S. 25) hätten vielleicht ein positives Ende möglich gemacht. 

Auf diesen Schluss hat Gottfried Keller in der maßgeblichen Fassung 1874 verzichtet – offenbar, weil er ihm angesichts der realen politischen und sozialen Verhältnisse „auf dem Dorfe“ und in der gesamten Gesellschaft unrealistisch erschien. Und Gert Sautermeister zieht das Fazit: „Bedenkt man, wie verfemt damals der Freitod gewesen ist, wie sehr er gegen bürgerliche und religiöse Sitte verstieß, so wird auch in dieser Hinsicht die nonkonforme, kühne und freisinnige Handlungsweise von Kellers Liebespaar kenntlich. Ehe zwei Menschen von Charakter sich verbiegen, sich den sozialen Verhältnissen unterwerfen und jedem Glücksanspruch entsagen, sollten sich doch wohl die Verhältnisse ändern, um dem Einzelnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.“ (S. 26) Damit steht Kellers Novelle gleichermaßen in der Tradition von Shakespeares Drama und Goethes „Werther“. 

„Fontanes Bourgeoisiekritik am Beispiel von ‚Frau Jenny Treibel‘“ untersucht Bertold Heizmann unter dem Fontane-Zitat: „Den Dingen scharf ins Gesicht sehen“ (S. 27-46). Die Handlung ist bekannt: Frau Kommerzienrätin Treibel, die als soziale Aufsteigerin aus einfachen Verhältnissen mit dem sprechenden Familiennamen Bürstenbinder einen Fabrikantensohn geheiratet hatte, wehrt nun ihrerseits eine Schwiegertochter ähnlicher Herkunft erfolgreich ab. Man kann Fontanes Heldin als frühes weibliches Pendant zu Heinrich Manns „Untertan“ Diederich Heßling begreifen, als Roman freilich freundlicher als Manns bitterböse Gesellschaftssatire. Zwar hatte er noch am 9. Mai 1888 seinem Sohn Theo geschrieben: „Zweck der Geschichte: das Hohle, Phrasenhafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige des Bourgeoisstandpunktes zu zeigen …“ (S. 27), aber Bertold Heizmann führt in seiner detaillierten Textanalyse überzeugend aus, dass der Autor „doch wieder zu einer freundlicheren Sichtweise zurück“ finde (S. 28). 

Sehr genau seziert Bertold Heizmann dabei den Klassencharakter der Gesellschaft, sprachlich erkennbar an den „Bedeutungsschattierungen“ der Begriffe „Bürger“, „Bourgeois“, „Bourgeoisie“ und „Citoyen“: „je mehr das Bürgertum sich zur herrschenden Klasse entwickelt, wird es verstärkt zur reaktionären Kraft.“ (S. 30) Der Konflikt zwischen Adel und Bürgertum verliere an Bedeutung, Während sich das Großbürgertum zur „wahrhaft herrschenden Klasse“ aufschwinge, diene der Adel „oft nur noch zur Dekoration – man denke etwa an die beiden adeligen Damen auf dem Empfang der neureichen Treibels“. (S. 30) Daneben lebt das Kleinbürgertum, dem gesellschaftlicher Aufstieg selten gelingt, es sei denn durch „Einheirat in die ‚höheren‘ Schichten. Diese Chance hat auch Jenny Treibel […] genutzt.“ (S. 31) Besonderen Wert legt Bertold Heizmann auch auf die Unterscheidung zwischen Bildungsbürgertum und Besitzbürgertum – offenbar konnte Fontane in der eigenen Familie Charakter- und Sozialstudien treiben. Seine Briefe legen es nahe, dass ihm die eigene Schwester Jenny Sommerfeldt, verheiratet mit einem gutsituierten Apotheker, als Vorbild der Romanfigur diente: „Das ganze Haus besitze keine Spur von Bildung.“ (S. 31) 

Allerdings werden hier keine Feindbilder gezeichnet; gutmütiger Humor prägt die Sicht, nimmt menschliche Schwächen aufs Korn. Seiner Tochter Martha schildert Fontane brieflich einen Geburtstagsbesuch bei „Tante Jenny“: „Ich kann den Bourgeoiston nicht ertragen, und in derselben Weise, wie ich in früheren Jahrzehnten eine tiefe Abneigung gegen Professorenweisheit, Professorendünkel und Professorenliberalismus hatte, in derselben Weise dreht sich mir jetzt angesichts des wohlhabendgewordenen Speckhökertums das Herz um.“ (S. 32) Verständlich, dass angesichts der familiären Nähe sowohl der Fabrikant und Kommerzienrat Treibel als auch der Gymnasialprofessor Schmidt als recht sympathische Figuren, freilich mit spießigen Zügen, auftreten. Es zeichnet Fontanes Realismus aus, dass er nicht der Versuchung erliegt, ein rührseliges Happy End zu liefern, Corinna und Leopold am Ende mit ihrer Liebe triumphieren zu lassen, auch in der nächsten Generation der Kleinbürgertochter einen sozialen Aufstieg zu gönnen wie einst Jenny Treibel. Vermutlich hätte dieser Ausgang Absatz und Erfolg des Romans deutlich verbessert und damit Fontanes Honorare erhöht. Aber dazu war er offensichtlich nicht bereit. 

Geradezu minimalistisch liest sich im Vergleich zu diesen beiden umfassenden Untersuchungen prosaischer Schwergewichte der wissenschaftliche Ansatz von Kai Sina, der „Zwei Striche“ untersucht: „Zu einer literarhistorischen Koinzidenz um 1900 (Wilhelm Raabe und Thomas Mann)“ (S. 47 – 65). Dazu vergleicht er zwei vergleichsweise marginale Episoden aus recht umfangreichen Gesellschaftsromanen, den „Akten des Vogelsangs“ und den „Buddenbrooks“. „Während seit längerer Zeit schon intensiv und kritisch über die Frage diskutiert wird, ob Raabes ‚Akten‘ möglicherweise Einfluss auf die Entstehung von Thomas Manns ‚Doktor Faustus‘ (1947) gehabt haben könnten, blieben die zwei Striche Karl Krumhardts und Hanno Buddenbrooks bislang unbeachtet“ (S. 48). Es handele sich um eine erstaunliche Übereinstimmung zweier Werke, „in denen das ‚Gefühl des Fertigseins, des Zu-Ende-Gehens‘“ auf verblüffend ähnliche Weise „ins erzählerische Bild gesetzt wird.“ (S. 48) Erstaunlich liest sich die Akribie, mit der Kai Sina hier zwei Szenen vergleicht und interpretiert, die im Rahmen der Romanhandlungen nur wenige Zeilen ausmachen, um an ihnen Pars pro Toto nachzuweisen, wie beide Autoren hier eine „Fin-de-siècle-Stimmung“ (S. 48) darstellen.         

Galten die ersten drei Essays prosaischen Epochenpanoramen, so nimmt Hargen Thomsen zu guter Letzt eine ganz private, individuelle Perspektive unter die Lupe: die literarische Form des Tagebuchs: „‚Ein Wesen, das sich selbst begriffe …‘ Friedrich Hebbels Tagebücher als grundlegendes Werk der Moderne“ (S. 66 – 84). Er legt Wert darauf, Hebbel trotz vielfacher Einwände als Realisten zu begreifen, denn keiner von ihnen habe „ein vergleichbares Werk hinterlassen, wie es Hebbels Tagebücher sind“ (S. 67), die er von 1835 bis 1863 führte: „dieses gigantische Konvolut aus Notizen, Reflexionen, Rezensionen, Beobachtungen, Begegnungen, Aphorismen, Albernheiten, Exzerpten, Plänen, Reisebeschreibungen, Beichten und Abrechnungen, das sich jeder Norm und jeder Kategorisierung entzieht und doch zu den großen Texten der deutschen Literatur gehört.“ (S. 67) Hebbels Tagebücher spiegelten die Unwägbarkeiten einer Umbruchszeit, „weil hier im Grunde alle Probleme, Konflikte, Ängste und Phobien der Moderne schon vorausgedacht und mit beispielloser Offenheit aufgedeckt werden“ (S. 77). Der Autor lasse sich von ihnen aber nicht überwältigen, deshalb sind diese scheinbar privaten Tagebücher bis heute lesenswert und aktuell.Es ist der Hamburger Ortsvereinigung gelungen, mit diesem schmalen, inhaltlich aber ausgesprochen gewichtigen Band ein facettenreiches Bild des Realismus zu bieten. Man kann den hanseatischen Goethe-Freunden zu diesem Programm nur gratulieren und muss zugleich lebhaft bedauern, das Seminar leider nicht besucht zu haben.

Realismus und Bürgertum
Hg.: Ortsvereinigung Hamburg der Goethe-Gesellschaft in Weimar e. V. Jahresgabe 2019; 

Verlag: Janos Stekovics, Wettin-Löbejün, 2019; 
88 Seiten
ISBN: 978-3-89923-409-1

Preis: 14,80 €

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 1/2020.


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