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Professor Dr. Marcus Mazzari berichtet aus Brasilien
Als weltoffener Mensch blickte Goethe aus seinem kleinen Reich in Weimar weit hinaus in die Welt. In jeder Beziehung. Bis in die Antike reicht sein geistiger Horizont, wissenschaftlich und technologisch war er auf der Höhe seiner Zeit, versuchte, künftige Perspektiven zu erkunden. Deshalb war es kein Zufall, dass sich bis heute ein Modell von Stephensons Lokomotive „Rocket“ in seinen Sammlungen erhalten hat. Vor allem war Goethe an einem literarischen und wissenschaftlichen Dialog mit den Koryphäen seiner Zeit interessiert. Im Rahmen der damaligen Möglichkeiten pflegte er globale Kontakte, lange bevor Begriffe dieser Art in Mode kamen, jede Form nationaler Borniertheit war ihm suspekt.
Deshalb hätte es ihn gefreut, wäre er noch Zeuge des weltweiten Diskurses über Literatur geworden, der in seinem Namen geführt wird. Und mit Interesse hätte er die Entwicklungen und Forschungen verfolgt, die in Goethe-Gesellschaften auf fast allen Kontinenten zu beobachten sind. Alle zwei Jahre gipfeln diese gemeinsamen Bestrebungen in der Hauptversammlung in Weimar, wenn Goethe-Freunde aus vielen Ländern zusammenkommen, Wissenschaftler und Autoren, Literaturfreunde und Künstler, um sich miteinander auszutauschen über Fragen aller Art, die einen Universalgelehrten wie Goethe interessiert hätten. Und natürlich über sein Werk und dessen weltweite Rezeption.
Häufig trifft man bei diesen Gelegenheiten auch Professor Dr. Marcus Vinicius Mazzari, er lehrt Literaturwissenschaft an der Universidade de São Paulo und engagiert sich als Präsident der Goethe-Gesellschaft Brasiliens für den Kontakt der Goethe-Enthusiasten dort und in größeren Umfang in Lateinamerika. Offenbar versteht er es, junge Brasilianer für einen vor knapp 200 Jahren verstorbenen deutschen Dichter zu interessieren. Einer der Höhepunkte der Hauptversammlung ist regelmäßig das international besetzte Podium „Goethe weltweit“. Auch bei dieser Gelegenheit unterhielten wir uns 2019 über seine Arbeit an der Universität in São Paulo S. P. und er verblüffte uns mit dem Hinweis, als ‚Hausaufgabe‘ für seinen Aufenthalt in Weimar und Deutschland habe er rund 200 Seminararbeiten seiner Studenten mitgebracht, in denen die jungen Brasilianer sich mit „Faust“ beschäftigt hätten. Von einem solchen Interesse dürften manche Professoren deutscher Universitäten kaum zu träumen wagen …Wir haben Herrn Professor Dr. Marcus Vinicius Mazzari gebeten, uns über die Aktivitäten der Goethe-Gesellschaft in Brasilien zu informieren.
Trotz seiner erheblichen Belastungen und zahlreichen Verpflichtungen:
“Im Moment ist alles sehr hektisch bei mir: Unter anderem gebe ich einen Kurs (morgens und abends) über Goethes ‚Faust‘ und den brasilianischen faustischen Roman ‚Grande Sertão‘ und es haben sich beinah 250 Studenten/innen eingeschrieben.
Es ist sehr anstrengend für mich und ich grause mich schon vor der Hausarbeiten-Korrektur …“
war er freundlicherweise bereit, uns diesen Bericht zu senden und schrieb uns:
Lieber Herr Rumler,
in den letzten Zeiten hatte ich (und habe immer noch) alle Hände voll zu tun; heute aber kann ich auf Ihre Anfrage zurückkommen.
Erstens, was die Goethe-Veranstaltungen betrifft: Unser Goethe-Kreis organisiert sie regelmäßig in verschiedenen Städten Brasiliens und die jüngste fand in Rio de Janeiro im vorigen Juli statt: es handelt sich um das Symposium „Fausts Bilder: Geschichte, Mythos, Literatur“ (Imagens de Fausto: História, Mito, Literatura) und es haben sich etwa 40 Leute aus verschiedenen Städten daran beteiligt. Das ist übrigens die Zahl der Studenten, Forscher und Dozenten/innen, die normalerweise bei unseren Konferenzen, Symposien usw. Vorträge halten.
Die Zahl der Interessierten im Allgemeinen – d. h. der Leute, die die Veranstaltungen unseres Goethe-Kreises besuchen – würde ich durchschnittlich auf 60 schätzen. Da bei unserem Kreis (Círculo Goethiano do Brasil) keine feste Mitgliedschaft erforderlich ist, kann ich Ihnen nicht genau sagen, wie viele Mitglieder wir haben – aber etwa 60 Leute sind immer aktiv zugegen bei unseren Unternehmungen.
Bei jedem großen Literatur-Kongress in Brasilien (auch in Lateinamerika) bieten wir normalerweise eine Goethe-Sektion an. Wir beteiligen uns – immer mit Goethe’schen Themen – an Kongressen, die von folgenden Verbänden abgehalten werden:
ABRALIC (Associação Brasileira de Literatura Comparada): Brasilianischer Verband für Vergleichende Literaturwissenschaft. (Sollte es das Coronavirus erlauben, findet der nächste Kongress in Porto Alegre, im Süden des Landes, Ende Juni statt.)
ABEG (Associação Brasileira de Estudos Germanísticos): Brasilianischer Germanistenverband, dessen letzter Kongress in Niterói im August 2019 stattgefunden hat. Für den nächsten ist die Stadt Fortaleza (im Bundesstaat Ceará, im Nordosten) vorgesehen.
ALEG (Associação Latino-americana de Estudos Germanísticos): Lateinamerikanischer Germanistenverband, dessen letzter Kongress in Buenos Aires, zwischen dem 27. November und dem 1. Dezember 2017 (auch mit vielen Vorträgen über Goethes Werk) stattfand. Die nächste Ausgabe ist für Havanna (Kuba) für 2021 anberaumt; bis jetzt liegen aber noch keine konkreten Angaben vor.
Außerdem hält regelmäßig unser Goethe-Kreis – organisiert meistens von meinen Kolleginnen Magali dos Santos Moura (Staatliche Universität Rio de Janeiro), Wilma Patricia Maas (Staatliche Universität Araraquara, S. P.) und mir – Veranstaltungen unter dem Motto „Goethes Aktualität“ ab, denn wir haben in Brasilien eine offizielle (d. h. bei einer Plattform im Kultusministerium eingeschriebene) Arbeits- und Forschungsgruppe, die etwa 35 Studenten, Doktoranden und Dozenten aus verschiedenen Städten umfasst und die Bezeichnung „Die Aktualität von Goethes Werk“ trägt.
Unsere Aktivitäten haben im August 2008 mit einer großen „Faust“-Konferenz („Faust und Lateinamerika“ hieß sie) in São Paulo angefangen. Es waren insgesamt 31 Teilnehmer aus Brasilien, Deutschland (11 Teilnehmer, darunter Jochen Golz, Ernst Osterkamp, Michael Jaeger, Oskar Negt), Spanien, Argentinien und Chile. (Daraus ist ein Band hervorgegangen, der im Goethe-Jahrbuch 2012 besprochen wurde).
Einige Tage später fand in Rio eine kleinere Goethe-Konferenz mit Ernst Osterkamp, Michael Jaeger u. a. statt.
Dann würde ich noch die internationale „Wahlverwandtschaften“-Konferenz erwähnen, die hier in São Paulo im November 2009 stattfand.
Seitdem gibt es praktisch jedes Jahr (wie oben angeführt) solche Goethe-Veranstaltungen, auch anlässlich von Buch-Premieren, wie z. B. 2017 in Curitiba, als drei Neuerscheinungen (Verlag UNESP) vorgestellt wurden: „Aus meinem Leben“ (in Übersetzung von Mauricio Cardozo), „Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens“ (Übersetzung von Mário Frungillo) und „Italienische Reise“ (Übersetzung von Patricia Maas).
Bei diesem Treffen in Curitiba hielt ich einen Vortrag über das Erdbeben von Lissabon und seine Rolle in Goethes Autobiographie.
Die jüngste Veranstaltung anlässlich einer Buch-Vorstellung ereignete sich am 9. November 2019 in São Paulo, im hiesigen Museum Lasar Segall: Vorgestellt wurde mein „Faust“-Buch „A dupla noite das tílias“ (der Titel „Die Doppelnacht der Linden“ spielt auf die Verse „Funkenblicke seh’ ich sprühen / Durch der Linden Doppelnacht“ an) und es gab auch eine sehr schöne Hommage für die Goethe-Übersetzerin Jenny Klabin Segall (1889 – 1967), die mit dem Maler Lasar Segall verheiratet war. Über hundert Leute haben diese Veranstaltung besucht.
Da gerade jetzt (März 2020) eine Übersetzung des „West-östlichen Divans“ veröffentlicht wird (Link unten), wollten wir diesbezügliche Veranstaltungen in São Paulo (im hiesigen Goethe-Institut) und Florianópolis abhalten, aber wegen der gegenwärtigen Pandemie bleibt das vorerst in der Schwebe.
Ich glaube, das wäre ziemlich alles, was ich Ihnen mitteilen könnte.
Wie Sie sehen, erfreut sich Goethe einer günstigen Lage in Brasilien (unter den Studenten wächst das Interesse an seinem Werk ständig) und wir bemühen uns, diese Beliebtheit noch zu steigern. (Gestern, den 17. März, hat der hiesige wichtige Radiosender Radio USP ein Feature über mein „Faust“-Buch ausgestrahlt – mit Wiederholung am Samstag, den 21. 3. um 16 Uhr – bei Ihnen einige Stunden später.)
Und unten finden Sie die Ankündigung der eben erschienenen Ausgabe von Goethes „Divan“, mit einem Text von mir.
Ich hoffe, Sie können etwas mit dem hier Mitgeteilten anfangen.
Seien Sie aus dem krisengeschüttelten Brasilien (und mit dem Coronavirus noch schlimmer übel zugerichteten) Brasilien herzlich gegrüßt,
Ihr Marcus Mazzari.
https://www.estacaoliberdade.com.br/livraria/diva-ocidento-oriental
Außerdem sandte uns Marcus Mazzari noch diesen Link einer Rezension der größten Zeitung Brasiliens (O Estado de São Paulo) mit einer erfreulichen Rezension über sein vor kurzem erschienenes „Faust“-Buch: https://alias.estadao.com.br/noticias/geral,como-o-fausto-de-goethe-foi-atualizado-por-um-brasileiro,70003188342
Angesichts dieser Fülle an Veranstaltungen und des offensichtlichen Interesses an einem breit gefächerten Angebot kann man Professor Mazzari und seine Kolleginnen und Kollegen zu dem Erfolg ihrer Arbeit nur beglückwünschen.
Und hier sind noch einige der Titel, die er in der letzten Zeit veröffentlicht hat:
Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 2/2020.