Blog
Helmut Schmiedt: Der schamlose Goethe. Eine Professorennovelle. Würzburg 2019.
Der Versuch einer ‚Szientifizierung‘ der Literaturwissenschaft hat – in Deutschland vielleicht stärker als anderswo – dazu geführt, dass die Grenze zwischen der Literatur und ihrer Wissenschaft ungefähr seit den 1960er Jahren strenger bewacht wurde als in früheren Phasen der Fachgeschichte, sodass Literaturwissenschaftler, wollten sie ihren Ruf nicht gefährden, ihre etwaigen literarischen Ambitionen in der Regel lieber für sich behielten. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts und zumal im vergangenen Jahrzehnt hat sich die Lage jedoch wieder etwas entspannt, einerseits deshalb, weil der Typus des poeta philologus bzw. ‚Professoren-Dichters‘ in dieser Zeit zu einem beliebten Forschungsgegenstand geworden ist und sich in diesem Zusammenhang ein stärkeres Bewusstsein für die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Literatur und Literaturwissenschaft sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht herausgebildet hat,(1) andererseits deshalb, weil es in der Gegenwart überzeugende Verkörperungen dieses Typus gibt, darunter – wahrscheinlich nicht zufällig – auffallend viele Goethe-Forscher.(2)
Ohne Vorbehalte, ja in gespannter Erwartung nimmt man aus diesem Grund eine Neuerscheinung zur Hand, die sich bereits in ihrem Untertitel als ‚Professorennovelle‘ zu erkennen gibt, was man als einen augenzwinkernden Verweis auf das verschollene Genre des sogenannten Professorenromans verstehen darf, der seine Blütezeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebt hatte, seitdem aber gründlich in Vergessenheit geraten ist. Eine Notiz auf der Schmutztitelseite gibt zudem Auskunft darüber, dass der Autor der Novelle „von 1995 bis 2015 Professor für Germanistik: Neuere Literaturwissenschaft an der Universität in Koblenz“ war und „[s]ein fachliches Interesse […] speziell der Literatur des 18. Jahrhunderts sowie der Rolle des Populären in der Literatur“ gilt. Schnell zeigt sich aber, dass der Untertitel doppeldeutig ist, denn die Hauptfigur der Novelle, Klaus Theo Gärtner, ist ebenfalls ein Professor für Germanistik. Als eine von einem realen über einen fiktiven Professor geschriebene Novelle ist „Der schamlose Goethe“ demnach eine gleichsam potenzierte Professorennovelle. Zwischen dem Autor und seiner Figur gibt es auch Gemeinsamkeiten, so, neben der Tatsache, dass sie beide an einer kleinen deutschen Universität lehren bzw. gelehrt haben, vor allem ihre Forschungsinteressen (auch Gärtner beschäftigt sich zum Beispiel mit der Literatur des 18. und der Populärkultur des 20. Jahrhunderts); etwaige weitere Punkte können wohl nur die Kollegen und Schüler Schmiedts erkennen. Doch auch als Außenstehender ahnt man, dass der Autor sich in seiner Figur porträtiert oder gar parodiert hat (denn ein Held ist der fiktive Professor wahrlich nicht).
Der Inhalt der Novelle muss hier nicht referiert werden. Nur so viel: Gärtner, in dem sich intellektuelle Brillanz mit einer bedenklichen Tendenz zum Unseriösen verbindet und der sich im Umgang mit dem anderen Geschlecht reichlich unbeholfen anstellt, kommt auf die Idee, am Ende einer seiner Vorlesungen bekannt zu geben, dass er auf der Suche nach einer Frau sei und sich etwaige Interessentinnen doch bitte bei ihm melden möchten. Dass eine solche – wie Gärtner selbst es nennt – „Überschreitung von Schamgrenzen“ (S. 25) die verschiedenartigsten, nur selten aber erfreulichen Reaktionen im Auditorium, im Kollegium und auch in der Öffentlichkeit hervorrufen muss, liegt auf der Hand, und sie werden im weiteren Verlauf des Textes auch ausführlich beschrieben. Dabei greift Schmiedt einige bewährte Elemente aus dem Genre des Campusromans auf, die – freilich in einem meist weiter gefassten Sinn – in den vergangenen zwei Jahrzehnten von einiger Aktualität war: Man denke nur an Romane wie „Disgrace“ von Nobelpreisträger J.W. Coetzee, „The Human Stain“ von Philip Roth oder „Stoner“ von John Williams, aber auch deutsche Beispiele kommen einem in den Sinn, etwa „Fliehkräfte“ von Stephan Thome und „Weiskerns Nachlass“ sowie – vor kurzem erst – „Verwirrnis“ von Christoph Hein. Diese Konkurrenz ist allerdings auch ein Problem für die Novelle, denn mit Texten wie den genannten, die den Erwartungshorizont in diesem Genre bestimmen, kann sie nicht mithalten. Zwar ist sie nicht ungeschickt gemacht, und auch schlecht geschrieben ist sie nicht, doch fehlt es ihr im Vergleich an Glanz – und Brisanz. Denn den engen Horizont einer deutschen Universitätswelt mit ihren provinziellen und im Übrigen allzu männlichen Problemen vermag die Novelle an keiner Stelle hinter sich zu lassen. Da helfen auch die für den Campusroman (im engeren Sinn) konstitutiven Anspielungen auf reale Literaturwissenschaftler und ihre Forschungsbeiträge nichts. Selbst wenn man Germanist ist, können einem Seitenhiebe wie der gegen den Poststrukturalismus (S. 83) nicht mehr entlocken als ein gelangweiltes Gähnen; das gilt auch für offenbar positiv gemeinte Verweise wie den auf Albrecht Schönes Habilitationsschrift (S. 18). Das wäre vor 40 bzw. 60 Jahren aktuell gewesen; heute hingegen wirkt es wie eine verspätete Reminiszenz an längst vergangene Ereignisse und Kontroversen der Fachgeschichte. Eine ähnliche Wirkung haben die an jeder sich bietenden Stelle versteckten literarischen Bezüge: In der Nacht nach seiner Bekanntmachung wird Gärtner etwa wie Gregor Samsa von „unruhigen Träumen“ (S. 29) heimgesucht. Gerade solche Zitate jedoch, die keine erkennbare Funktion haben, als die, die Kenntnisse des Autors zu demonstrieren, entlarven die Novelle als das, was sie ist: biedere Germanistenprosa.
Was aber hat es mit dem – immerhin titelbildenden – schamlosen Goethe auf sich? So heißt auch eine von Gärtner (gegen gewisse Widerstände im germanistischen Institut) gehaltene Vorlesung, deren Ausgangspunkt folgendermaßen skizziert wird:
„Johann Wolfgang Goethe, von dem er [Gärtner] einst in einem Jugendlexikon gelesen habe, er sei der größte deutsche Dichter, Goethe also zeichne sich nun in Leben, Werk und – wofür er freilich weniger könne – Wirkung durch eine geradezu überwältigende Schamlosigkeit aus, durch ein ständiges, mal offenes und mal verborgenes Überschreiten von Grenzen, die er respektiert hätte, wenn das, was sich ziemt, die zentrale Richtschnur seines Handelns gewesen wäre. Dieser Umstand sei in der bisherigen Goethe-Forschung, so überwältigend üppig sie auch daherkomme, völlig unterbelichtet. Aus Gründen, die er im Schlussteil seiner Vorlesung noch hoffe darlegen zu können, sei dieses Thema weder für die Goethe-Verehrer unter den Forschern noch für seine Verächter in Wissenschaft und Feuilleton und auch nicht für die Verfechter eines eher nüchternen Zugriffs attraktiv gewesen; vermutlich hätte kaum jemand seine Bedeutung richtig erkannt, obwohl sich Goethe selbst mehrfach dieses Begriffs bedient habe und es auch Zusammenstellungen der entsprechenden Bemerkungen gebe, wie bei allem, was Goethe gesagt habe.“ (S. 23)
Von da an ziehen sich die Auslassungen Gärtners zu diesem Thema wie ein roter Faden durch die Novelle, sodass sie vollends zu einer verkappten Vorlesung wird. Dabei werden einige bekannte Positionen der Goethe-Forschung referiert, so etwa die Kurt R. Eisslers, Ettore Ghibellinos und natürlich auch Schmiedts selbst. Ihren Höhepunkt erreicht diese Vorlesung in Gestalt einer Novelle im letzten Kapitel, das die Überschrift Die Goethe-Gesellschaft trägt. Darin wird von einem Vortrag erzählt, den Gärtner auf Einladung der örtlichen Goethe-Gesellschaft hält. Bei dieser Gelegenheit spricht er über die sexuellen Aspekte des schamlosen Goethe, wobei er seine Thesen auch durch einschlägige Filmszenen illustriert. Wenig überraschend kommt es schon während des Vortrags zu empörten Reaktionen im Publikum, anschließend aber auch zur Versöhnung mit Gärtners früherer Freundin, der er mit seinem Auftritt offenbar imponieren konnte. Doch dieser Professor ist unverbesserlich, ihm fällt auch in dieser Situation nichts Besseres ein, als Kleists „Amphitryon“ zu zitieren: „Ach.“ – So sehr dies alles wohl als Satire auf den Wissenschaftsbetrieb gedacht ist – man fühlt sich angesichts der Pennälerhaftigkeit der Darstellung peinlich berührt. Offenbar sind emeritierte Professoren vor so etwas genausowenig gefeit wie in die Jahre gekommene Schriftsteller.Man fragt sich, für wen diese Novelle eigentlich geschrieben wurde. Für eine allgemeine Leserschaft? Wohl kaum, dafür setzt sie zu viele Spezialinteressen und -kenntnisse voraus. Für Mitglieder der Goethe-Gesellschaft? Da sie nicht gerade vorteilhaft dargestellt und an einer Stelle sogar ganz explizit der „intellektuelle[n] Steif- und Knickebeinigkeit“ (S. 111) bezichtigt werden, kommen auch sie wohl nicht in Betracht. Für Kollegen und Schüler Schmiedts? Schon eher. Indes wird man den Verdacht nicht los, dass der Autor sie vor allem für sich selbst geschrieben hat.
Helmut Schmiedt
Der schamlose Goethe: Eine Professorennovelle
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2019
120 S.
ISBN: 978-3-8260-6710-5
Preis: 18,00 €
1 Vgl. u.a. Mark-Georg Dehrmann / Alexander Nebrig (Hg.): Poeta philologus. Eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main u.a. 2010 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 22) und Alexander Nebrig: Disziplinäre Dichtung. Philologische Bildung und deutsche Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Berlin / Boston 2013 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 77). Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang des Weiteren die Studie: Ernst Osterkamp: Felix Dahn oder Der Professor als Held. München 2019 (= Themen 106).
2 Zu nennen sind hier vor allem Heinrich Detering und Dirk von Petersdorff.
Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 2/2020.