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„Der Arzt muss produktiv sein, wenn er wahrhaft heilen will“ – Einige Ratschläge Goethes zum Umgang mit Corona

von Barbara Steingießer

Ein fiktives Interview über Nies-Etikette, Maskenpflicht und virtuelle Kulturangebote

Die Coronavirus-Pandemie hat Menschen auf der ganzen Welt in einen Ausnahmezustand versetzt, der für alle neu ist. Doch über Seuchen und sogar über Impfungen, die es auch um 1800 schon gab, machte sich bereits Johann Wolfgang von Goethe Gedanken. Wenn man in seinem Werk nachschaut, wird deutlich, wie modern die Ansichten des Universalgelehrten waren und wie gut er unsere Probleme der Gegenwart verstehen würde. Die Antworten aus diesem fiktiven Interview sind aus wörtlichen Zitaten seiner Werke, Briefe und Gespräche zusammengesetzt. Diese Aussagen beziehen sich zum größten Teil auf medizinische Zusammenhänge, aber nicht ausnahmslos. Daher ist dieses fiktive Interview nicht immer ganz ernst zu nehmen.

Herr Geheimrat, was möchten Sie in diesen Zeiten den Lesern besonders ans Herz legen? 

Es gibt Tugenden, die man, wie die Gesundheit, nicht eher schätzt, als bis man sie vermisst; von denen nicht eher die Rede ist, als wo sie fehlen; die man stillschweigend voraussetzt.

Gegenwärtig scheinen die Virologen in den Medien mehr Aufmerksamkeit zu bekommen als Künstler wie Sie – zu Recht?

Ja, ja, man braucht nicht bloß Gedichte und Schauspiele zu machen, um produktiv zu sein, es gibt auch eine Produktivität der Taten, und die in manchen Fällen noch um ein Bedeutendes höher steht. Selbst der Arzt muss produktiv sein, wenn er wahrhaft heilen will.

Sie selbst sind nicht nur Dichter, sondern auch Naturwissenschaftler. Welchen Einblick konnten Sie in das Fach Medizin gewinnen? 

Gehen Sie einmal in unsere großen Städte, und es wird Ihnen anders zu Mute werden. Halten Sie einmal einen Umgang an der Seite eines Arztes von ausgedehnter Praxis, und er wird Ihnen Geschichten zuflüstern, dass Sie über das Elend erschrecken und über die Gebrechen erstaunen, von denen die menschliche Natur heimgesucht ist und an denen die Gesellschaft leidet. 

Die Corona-Pandemie breitete sich schneller aus als erwartet …

Es ist die höchste Zeit, den Jammer dieser Seuche laut auszusprechen, wenn man auch nicht sogleich sieht, wo die Heilung herkommen soll. Das asiatische Ungeheuer entfaltete immer mehr Hälse, Köpfe und Rachen, je näher es heranrückte, man machte, was ich sehr billige, fürchterliche Anstalten dagegen, um die Furcht zu balancieren. 

Wie geht es Ihnen in dieser unsicheren Zeit? 

Übrigens bin ich, mit den meinigen, gesund, mit allen Einschränkungen die mich umgeben bekannt und zufrieden, in einem mäßigen Genusse der Gegenwart und ohne Sorge für die Zukunft.

Folgen auch Sie der Empfehlung, zu Hause zu bleiben?

Alle Herrschaften müssen heute zu Hause bleiben. Das sind ja seltsame Ereignisse! Es ist nicht genug, dass man von außen gedrängt wird, man hat auch noch mit innerlichen Zufällen zu kämpfen. Behalte guten Mut! Mir will er oft ausgehen: Denn in der totalen Einsamkeit, in der ich lebe, wird es doch zuletzt ganz schrecklich. Ich habe nun auch gar niemand, dem ich sagen könnte, wie mir zu Mute sei. Dass ich mich so wohl als möglich befinde, ist das größte Glück. Auch meine Arbeit habe ich trotz aller Hindernisse weit genug gebracht. 

Wie es bei uns der Fall ist, kümmern auch Sie sich gerade um virtuelle Angebote der Bibliotheken, richtig?

Wir haben ihrer viere, welche alle der Stiftung, der Anstalt und dem Platz nach wohl immer getrennt bleiben werden, deren virtuale Vereinigung aber man wünscht und man sich möglich gedacht hat. Hierzu die nötigen Vorkenntnisse zu sammeln und eine so schöne Idee der Ausführung näher zu bringen, würde schon allein einer literarischen Sozietät Beschäftigung geben können. 

Wozu raten Sie, um sich vor Ansteckung mit COVID-19 zu schützen?

Durchaus ist die größte Reinlichkeit aufs Neue empfohlen. Denn wo nicht immer von oben die Ordnung und Reinlichkeit wirket, da gewöhnet sich leicht der Bürger zu schmutzigem Saumsal. Und wenn er ganz gewaltig niest, wer weiß was dann daher entsprießt. 

Sie selbst haben schon vor über 200 Jahren für das von Ihnen geleitete Weimarer Theater eine Art Nies-Etikette durchgesetzt. Wie lautete damals die Regel?

Der Schauspieler lasse kein Schnupftuch auf dem Theater sehen, noch weniger schnaube er die Nase, noch weniger spucke er aus.

Was können Städte und Gemeinden zum Schutz ihrer Bürger tun? 

Mein Vorschlag wäre dahero, Sie beredeten mit irgendeinem Handelsmann, dass er in einer Ecke einen kleinen Laden aufschlüge, wo man Gesichtsmasken, Handschuhe oder sonstige Überwürfe haben könnte.

Was halten Sie von Impfungen? 

Es bedarf keiner weitumsichtigen und durchdringenden Seelenkenntnis, um zu wissen, dass wenn man dem hilfsbedürftigen Menschen irgendeine neue Arznei oder sonstiges Heilmittel anbietet, solche sogleich als universell und in allen Fällen erprobt angesprochen werden, dass aber sodann, wenn sich einige Ausnahmen hervortun, Unglaube und Widerspruchsgeist alsobald Platz gewinnen und das, was bisher als zuverlässig und unzweifelhaft angesehen wurde, als ungewiss und bedenklich vorgestellt wird. So ging es früher mit Einimpfung der natürlichen Blattern; jetzt sehen wir die Vaccination (Impfung) mit gleichem Schicksale bedroht.

Haben Sie auch den Eindruck, dass die Krise unsere Gesellschaft auf eine harte Probe stellt?

Freilich ist es eine langweilige und mitunter traurige Sache, zu sehr auf uns selbst und was uns schadet und nutzt achtzuhaben. Könnten wir, ohne ängstlich zu werden, auf uns achtgeben, was in unserm komplizierten bürgerlichen und geselligen Leben auf uns günstig oder ungünstig wirkt, und möchten wir das, was uns als Genuss freilich behaglich ist, um der üblen Folgen willen unterlassen, so würden wir gar manche Unbequemlichkeit leicht zu entfernen wissen. 

Die Lockerungen nach dem Herunterfahren der Wirtschaft werden gegenwärtig lebhaft diskutiert. Wie stehen Sie dazu?

Die Einschränkungen, die der Augenblick gebietet, hat man von dieser Seite angefangen und dadurch mehrere gute Leute missmutig gemacht. Wir müssen jetzt äußerst sachte gehen, um uns den Handel nicht zu verderben. Und doch bin ich immer dafür, strenge auf ein Gesetz zu halten, zumal in einer Zeit wie die jetzige, wo man aus Schwäche und übertriebener Liberalität überall mehr nachgibt als billig. Was nützte mir der ganzen Erde Geld? Kein kranker Mensch genießt die Welt.

Wie schätzen Sie die Zukunft ein?

Möge die alles heilende Zeit aus dieser traurigen Krise das Beste hervorbringen. Wenn die Hoffnungen sich verwirklichen, dass die Menschen sich mit allen ihren Kräften, mit Herz und Geist, mit Verstand und Liebe vereinigen und voneinander Kenntnis nehmen, so wird sich ereignen, woran jetzt noch kein Mensch denken kann.

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 3/2020.


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