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Kleine Tour d’Horizon – die Jahresgabe(n) der Goethe-Gesellschaft Bonn

von Andreas Rumler

Eine ganze Reihe von Ortsvereinigungen überreicht ihren Mitgliedern Jahresgaben. In Bonn haben sich die Kollegen, geleitet vom Vorsitzenden Helmut Krumme, eine besonders ergiebige Variante einfallen lassen: Als Sammelband haben sie Texte und Aufsätze der Vorträge von 2016 bis 2018 herausgegeben und mit zahlreichen Abbildungen illustriert. So ist ein recht stattlicher Band entstanden. Einmal mehr belegt er, wie konstruktiv und bereichernd der Kontakt der Ortsvereinigungen ist, sieht man einmal die Liste der Beiträger durch: Weltoffen geht es in Bonn zu, eben ganz im Geist Goethes, der Kontakte suchte und pflegte. Und das Ergebnis kann sich jetzt nicht nur sehen, sondern auch lesen lassen. 

Neun Beiträge sind hier versammelt. Sie bieten ein breites Spektrum jener Themen, die in der aktuellen Forschung weltweit diskutiert werden – im Sinn von „Weltliteratur“ eben. Den Auftakt bietet Hans-Joachim Kertscher aus Halle. Mit seinem Vortrag „Der junge Goethe zwischen Pietismus und Aufklärung“ (S. 9 – 29) beleuchtet er nuanciert und genau Goethes Verhältnis zu wichtigen Fragen der Religiosität. Als souveräner, selbstbewusster, eigenständiger Geist glaubt Goethe nicht blind, was von Kanzeln herab vorgebetet wird, sondern entwickelt von sich aus, was er denken will, gibt sich also nicht mit der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ vieler Gläubigen zufrieden, wie Kant das später formulieren wird. Man könne „seine kindliche Frömmigkeit durchaus mit der seines Protagonisten Prometheus in der gleichnamigen Ode vergleichen“ (S. 9), schreibt Hans-Joachim Kertscher. Und weiter: „Goethe bildet sich also seine eigene Religion, seine, wie er es nennt, ‚Privatreligion‘“ (S. 15) Besonders sein Verständnis von Luzifer unterscheide sich von kirchlichen Vorstellungen: „Die Mephisto-Gestaltung in seiner ‚Faust‘-Dichtung kann dafür als geradezu paradigmatisch gelten“ (S. 17).    

Lässliche Sünden … 

Vergleicht man die Bibliothek des Vaters im wiedererrichteten Elternhaus am Großen Hirschgraben mit der – salopp gesagt – „Bücherhöhle“ neben Goethes Arbeitszimmer am Frauenplan, fällt sofort auf, dass Goethes Verhältnis zu Lektüre ein vorwiegend pragmatisches war. In Frankfurt stehen edel gebundene Bände dekorativ in einem repräsentativ eingerichteten Arbeitszimmer, wie das in gutbürgerlichen Verhältnissen üblich ist, während in Weimar Lattenregale dazu dienen, Gebrauchsgegenstände literarischer Art griffbereit zu deponieren. „Goethe und seine Bibliotheken“ (S. 31 – 45) hat Georg Schwedt seinen Beitrag überschrieben, als stellvertretendem Vorsitzenden ist ihm wie anderen Bonner Kollegen dieser Band zu verdanken. Er beginnt mit der Frankfurter Bibliothek, in ihr konnte der junge Goethe sich bedienen und Interessen entwickeln. Über seine eigene Bibliothek am Frauenplan sind wir bestens informiert „durch die veröffentlichten Bücher-Vermehrungslisten. So erhielt er 1821 durchschnittlich monatlich sieben bis zwanzig Werke aus allen Wissensgebieten […] überwiegend von den Verfassern.“ (S. 32) Insgesamt kamen so rund 6500 Bände zusammen. 

Als Oberaufseher der herzoglichen Bibliotheken in Weimar und Jena hatte er natürlich auch auf deren Bestände Zugriff. Zur Recherche für besondere Projekte wie die „Farbenlehre“ nutzte er auch auswärtige Sammlungen, wie anlässlich eines Kuraufenthaltes in Bad Pyrmont 1801 die Universitätsbibliothek in Göttingen, die ihm sogar benötigte Bände nach Weimar auslieh, nicht immer zur reinen Freude der Verantwortlichen, wie Goethe selbst recht defensiv einräumen muss, weil man dort „öfters wegen verspäteter Zurücksendung mancher bedeutender Werke einen kleinen Unwillen nicht ganz verbarg.“ (S. 39) Für ihn waren das offenbar lässliche Sünden.

„Keinen guten Ruf“ genieße sie in der Goethephilologie, so Bertold Heizmann, „als rücksichtslose und egoistische Intrigantin“ (S. 47). In seinem Aufsatz „‚Nie gehörte Töne‘. Caroline Jagemann-von Heygendorff“ (S. 47 – 69) belegt er überzeugend, welche Verdienste sie sich als Künstlerin um das qualitative Niveau des herzoglichen Theaters erwarb; immerhin hatte sie eine sechsjährige Ausbildung als Sängerin und Schauspielerin am Mannheimer Theater unter Iffland absolviert. Erstaunlich bleibt, dass sich zeitgenössische Klischees und Vorurteile über sie durch die Jahre ebenso hartnäckig gehalten haben wie bei ihrer Freundin und Nachbarin aus den Jugendjahren in der Weimarer Luthergasse, Goethes späterer Frau, Christiane Vulpius. Neben Neid und den üblichen Verdächtigungen, denen sie als Geliebte und später nobilitierte Nebenfrau des Herzogs ausgesetzt war, trug dazu die Tatsache bei, dass Goethe nach einer Kontroverse mit ihr sein Amt als Leiter des Theaters niederlegte. Bertold Heizmann führt einen Weimarer Spottvers nach einem Schiller-Wort an: „Dem Hundestall soll nie die Bühne gleichen/ Und kommt der Pudel, muss der Dichter weichen.“ (S. 67) Dass Goethe selbst sich über ihre Leistungen wiederholt anerkennend äußerte, wird dabei geflissentlich übersehen. Etwa Eckermann gegenüber, der überlieferte: „Sie war auf den Brettern wie geboren und gleich in allem sicher und entschieden gewandt und fertig wie die Ente auf dem Wasser.“ (S. 68) Nach dem Tod des Herzogs verließ sie Weimar, um Anfeindungen zu entgehen. 

„getruncken, gebadet“ …

„Goethes Tagebücher“ (S. 71 – 96) stellt Helmut Koopmann vor und dabei gleich fest, sie hätten „bis heute […] ein Schattendasein geführt“, sie seien „ein kaum beachteter Teil des Goetheschen Werkes.“ (S. 71). Ein großer Teil der 1997 begonnenen historisch-kritischen Ausgabe der Tagebücher ist bislang erschienen. Zwei zentrale Probleme macht Helmut Koopmann aus. Einerseits hat Goethe die Tagebücher nicht durchgehend geführt. Andererseits, und das stelle das größere Problem dar, handele es sich um Aufzeichnungen, „die ihrem Charakter nach unterschiedlicher kaum sein könnten.“ (S. 76) 

Insgesamt beurteilt Helmut Koopmann das Konvolut der diaristischen Notizen eher distanziert. „Im ganzen gesehen sind die Tagebücher, wenn man von den Reisenotizen absieht, literarische Buchhaltung, Notizensammelei, Faktenkrämerei“ und fragt: „geben sie uns wirklich Einblick in Goethes Persönlichkeit?“ (S. 83) Es sind Erinnerungshilfen für Goethes persönlichen Gebrauch, meilenweit entfernt etwa von den Reflexionen, Bekenntnissen, Statements und Erlebnis-Schilderungen im Journal Thomas Manns. Deshalb seien sie „unerlässlich […] zur Rekonstruktion des Goetheschen Lebensalltags“ (S. 83), also eher eine ergiebige Lektüre für Philologen. Normal-sterblichen Lesern und Goethe-Verehrern geben sie in ihrer sachlichen Bilanzierung wie etwa „getruncken, gebadet“ oder „Der Wein war angekommen“ (S. 87) wenig an relevanter und konkreter Information. 

Das haben Erich Trunz („Ein Tag aus Goethes Leben“) und Robert Steiger („Goethes Leben von Tag zu Tag. Eine dokumentarische Chronik“) mit ihren Darstellungen eher geleistet. Goethes eigene Kurz-Notizen lesen sich über weite Strecken wie eine knappe, bürokratische Rechenschaftstabelle. Wichtige Ereignisse finden kaum oder nicht statt: „Schillers Tod: unkommentiert, nicht einmal notiert.“ (S. 84) Als Christiane von Goethe stirbt, lautet sein knapper Kommentar: „Leere und Todtenstille in und außer mir.“ (S. 85) Helmut Koopmann begreift allerdings die verschiedenartigen Faktensammlungen der Tagebücher als „Realitätsprotokolle“, deshalb könne man sie zur Sach- oder Dokumentarliteratur rechnen, um ihnen mit Begriffen aus heutiger Zeit gerecht zu werden. 

Asiatische und europäische Forschung … 

Ein Lesevergnügen besonderer Art bereitet Martin Blums Essay: „Wolken als Sinnbild bei Goethe“ (S. 97 – 130), mit dem er 2015 den zur Hauptversammlung ausgeschriebenen Wettbewerb der Weimarer Goethe-Gesellschaft gewann. Darin untersucht er unterschiedliche Aspekte der Bedeutung von Wolken und der Beschäftigung mit ihnen wie „Goethe als Wolkenforscher“ und „Wolkenpoet“ wie auch der „Wolke als Sinnbild“ des „Göttlichen“, der „Inspiration“ oder sogar der „Liebe“, auch der „Poesie“ und schließlich der „Sorge“. Wetterphänomene und Astronomie in Europa und Asien beschäftigen Aeka Ishihara in ihrem Beitrag „Zwischen Mondphantasie und Naturwissenschaft: Goethe und die Selenographie“ (S. 161 – 176). Indem sie den japanischen und chinesischen Blick auf diese Phänomene und die Kartografierung des Mondes mit der europäischen Sicht vergleicht, weitet sie die Perspektive, vergleicht asiatische und europäische Forschung. 

Ganz auf dem Boden der politischen Auseinandersetzung hierzulande bleibt Dieter Breuer mit seinem Text „‚Mißgestalt‘ und ‚Ungesetz‘ – Das Alte Reich in Goethes ‚Faust‘ II, 1. Akt“ (S. 177 – 194). Als „nur noch komisch, hohl und anachronistisch“ (S. 180) erlebte Goethe in Frankfurt als Jugendlicher die Krönung des jungen Kaisers 1763/ 64, als groteske Farce, und beschrieb die Inszenierung entsprechend in „Dichtung und Wahrheit“ – dass derlei pompös-zeremonielle Veranstaltungen jetzt noch möglich sind und begeisterte Zuschauer finden, gern bedient von der Yellow-Press bis heute, hätte Goethe und Schiller gewiss zu launigen Xenien inspiriert. 

Den weiten Bogen von der Antike zur Neuzeit schlagen Bernd Witte: „‚Die großen Meisterwerke der griechischen Kunst‘: die drei ‚Vestalen‘ – Johann Joachim Winckelmanns Erfindung des neuzeitlichen Individuums aus dem Geiste des Griechentums“ (S. 131 – 159) und Dieter Lamping: „Kafka und Goethe – Die Geschichte einer Entfernung“ (S. 195 – 208). Erstaunlicherweise erlebt Kafka diese Distanzierung, je näher er dem Dichter kommt. Als er und Max Brod nachts vor dem verschlossenen Haus stehen, die „helle Junobüste“ schimmernd hinter einem Fenster wahrnehmen – notiert Kafka in seinen Tagebüchern –, scheint noch so etwas wie Nähe möglich: „Fühlbare Beteiligung unseres ganzen Vorlebens an dem augenblicklichen Eindruck.“ (S. 195) Doch als sie am nächsten Tag das Haus besichtigen, klingt dieser Eindruck deutlich anders: „Flüchtiger Anblick des Schreib- und Schlafzimmers. Trauriger, an tote Großväter erinnernder Anblick.“ (S. 204) Solch ein spöttelndes Resümee findet sich in Goethes Tagebüchern nicht.  Damit demonstriert auch dieser Band einmal mehr, wie vielfältig die Themen sind, mit denen Goethe sich beschäftigte und zu denen seine Lektüre bis heute anregt, über Landesgrenzen und durch die Jahrhunderte. Und wie die abschließende „Chronik der Goethe-Gesellschaft Bonn 2016/ 2018“ (S. 209 – 214) beweist – sie listet alle Veranstaltungen dieser Jahre auf -, handelt es sich bei dieser kleinen Tour d’Horizon lediglich um eine Auswahl aus dem üppigen Bonner Programm. Als überzeugend erweist sich die Idee, den Überblick über den Ablauf einiger Jahre zu geben. Gerade in einer Zeit eingeschränkter Kontaktmöglichkeiten werden die Mitglieder der Ortsvereinigung in Bonn dieses Angebot zu schätzen wissen.

Jahresgaben der Goethe-Gesellschaft Bonn 2016 – 2018
Goethe-Gesellschaft Bonn (Hrsg.)

Bernstein-Verlag, Siegburg, 2020 
214 S.
ISBN: 978-3-945426-57-9 

Preis: 19,80 €

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 4/2020.


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