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Goethe weltweit

Iqbal und Goethe: Genealogie einer transkulturellen Begegnungsgeschichte

von Gauri Deshmukh

Der „West-östliche Divan“ (1819) von Goethe gehört zu den bedeutendsten Werken, die der Dichter in der zweiten Hälfte seines Lebens veröffentlicht hat. Das Werk ist ein zeitloses Symbol der literarischen Vereinigung des Ostens mit dem Westen. Goethes Begegnung mit dem persischen Dichter Hafis öffnete die Tür zur Rezeption des Orients für Dichter und Leser in Deutschland. Während es sich im Fall des „Divans“ um eine geistige Reise handelt, reiste ein Dichter aus dem Osten im 20. Jahrhundert wirklich nach Deutschland. Sir Muhammad Iqbal Lahorie, ein pakistanisch-indischer Dichter und Philosoph, hielt sich länger in Deutschland auf, wo er seine Doktorarbeit schrieb. Dort lernte er die deutsche Sprache und las den „Divan“ im Original. Diese Sammlung beeindruckte ihn zutiefst. Als er zurück nach Indien kam, verfasste er das Werk „Payam-i-Mashriq“ (1922), ein Meilenstein in der modernen Weltliteratur. Zwischen den drei Dichtern Hafis, Goethe und Iqbal entstand eine literarische Verbindung.

Muhammad Iqbal Lahorie, zeitgenössische Fotografie (1938) (Bildnachweis: Iqbal Academy Pakistan)

Die internationalen Begegnungen zwischen Hafis, Goethe und Iqbal stehen im Mittelpunkt meiner Arbeit. Da die Begegnung sich über mehrere Jahrhunderte und Länder erstreckt, könnte sie als eines der ältesten Beispiele für Transkulturalität gelten. Das Ziel der Arbeit ist, die Züge von Transkulturalität in diesen literarischen Begegnungen zu identifizieren. Die Hafis-Übersetzung von Josef von Hammer, der „West-östliche Divan“ von Goethe und Iqbals „Payam-i-Mashriq“ bzw. die deutsche Übersetzung von Annemarie Schimmel („Botschaft des Ostens, als eine Antwort auf den ‚West-östlichen Divan‘“; 1965) wurden in Betracht gezogen. Nicht die vollständigen Werke, sondern bestimmte lyrische Beispiele bildeten die Basis meiner Analyse. 

Die Konstellation zwischen den drei Dichtern wurde wegen der mehrfachen Bezüge von Goethe auf Hafis und von Iqbal auf Goethe gewählt. Sowohl Goethe als auch Iqbal verhielten sich produktiv dem Werk des Hafis gegenüber. Wo Goethe sich mit Hafis identifizierte und den alten persischen Dichter aus dem 14. Jahrhundert als seinen „Zwilling“ bezeichnete, nahm Iqbal Bezug auf Goethe, indem er in dem großen deutschen Dichter einen Lehrer sah. Goethes Gedichte im „West-östlichen Divan“ beinhalten persische Motive und Wörter. Iqbal stellt Goethe selbst ins Gespräch mit seinem geistigen Lehrer Rumi. Er setzt unterschiedliche Metaphern ein, um seine (Iqbals) Beziehung zu Goethe und seine Bewunderung für ihn darzustellen. Ein Teil seines Werks, „Tulpen von Sinai“, ist ein Gedicht aus 163 vierzeiligen Strophen, eine Gedichtform, die kaum in der persischen Dichtkunst anzutreffen war. Diese und andere Beispiele führen zu der Erkenntnis, dass die Begegnungen zwischen Goethe und Iqbal zwar interkulturell auf der Ebene der Literatur begonnen haben, aber im Laufe ihrer tiefen Beschäftigung mit den Werken des anderen Dichters transkulturell geworden sind, wenn auch nur in einem begrenzten Maße. 

Der Forschungsaufenthalt in Weimar bot mir Gelegenheit, eine engere und ausführlichere Studie zu diesem Thema zu unternehmen. Die Zeit in den Weimarer Bibliotheken und die hilfreichen Gespräche mit den Goetheexperten öffneten zahlreiche Wege zur Neuorientierung. Die Unterstützung und Betreuung der Goethe-Gesellschaft während des Aufenthalts in Weimar bot einen näheren Einblick in die deutsche akademische Welt. Die persönliche Begegnung zwischen Indien und Deutschland spielte eine wesentliche Rolle beim Analysieren der Begegnungen zwischen Goethe und Iqbal.

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 5/2020.


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