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„Weniger ein religiöses oder gar frommes Ereignis“ – eine Anthologie von Mathias Mayer
Gibt man in einer der gängigen Suchmaschinen oder im Versandbuchhandel „Weihnachten mit …“ oder „… bei“ ein, ist man stets überrascht, auf welche Fülle man stößt: „mit Thomas Mann“ oder auch „bei Buddenbrooks“, „bei Fontane“, „bei der Kuschelbande“, „bei den Maigrets“ und, und, und … – schier endlos scheint die Liste und hat natürlich auch Goethe zu bieten. Allein von Insel gibt es zwei Offerten: und zwar „bei Goethe“ (Insel-Bücherei Nr. 1456, von 2018, von Werner Völker) und jetzt neu „mit Goethe“ (Insel-Taschenbuch Nr. 4738, 2019 erschienen), herausgegeben von Mathias Mayer. Beide Bände sind mit hübschen Umschlägen illustriert – einmal einer winterlichen Schlittenpartie – und auch apart bebildert, unter anderem mit der Familie im Schäfer-Kostüm oder Goethes Eisenbahn-Modell von Stephensons „Rocket“, das andere Buch mit Goethe als Schlittschuhläufer: eine Anthologie verschiedener Textarten ohne Abbildungen.
Wer Goethes Fest als Herausgeber auf diesen gut dokumentierten Pfaden besuchen möchte, hat zwei Möglichkeiten: Er variiert beliebte Stellen oder erschließt eher unbekannte Texte, was auch bei dem beträchtlichen Œuvre Goethes nicht leicht sein dürfte. Mathias Mayer hat sich für die letztere Variante entschieden. Und er hat den Begriff „Weihnachten“ etwas weiter gefasst: Er bezieht Neujahrsgrüße und die griechisch-orthodoxe Feier mit ein. Während Werner Völker als Autor auftritt, der seine phantasiereichen Erzählungen mit Zitaten Goethes untermalt, lässt Mathias Mayer Goethes eigene Texte unkommentiert sprechen, als Philologe natürlich mit genauer Quellenangabe.
Höhepunkt im Festkalender und …
Unterteilt hat Mathias Mayer seine Sammlung in sechs Abschnitte: „Weihnachten“ (S. 5 – 70), „Weihnachtspost von Frankfurt nach Weimar“ (S. 71 – 80), „Weihnachten im Tagebuch“ (S. 81 – 94), „Silvester im Tagebuch“ (S. 95 – 110), „Neujahr“ (S. 111 – 134) und „Drei Könige“ (S. 135 – 154). Es folgen noch ein „Siglenverzeichnis“ (S. 155) sowie ein kurzes „Nachwort“ (S. 156 – 158).
Daraus ergeben sich – in chronologischer Folge – aufschlussreiche Reihen. Etwa, wenn im ersten und längsten Kapitel „Weihnachten“ (S. 5 – 70) verschiedene Textsorten miteinander kombiniert werden und einander reizvoll ergänzen: ein Brief an Kestner mit einem Auszug aus dem „Werther“. Ein Dokument „Aus Goethes Brieftasche“ wird mit Teilen aus „Wilhelm Meister“ oder der „Italienischen Reise“ garniert. Hinzu kommen Briefe an Charlotte und Friedrich von Stein, ein Kapitel „Wahlverwandtschaften“ und Gedichte, oder weitere, mitunter recht kurze Brief-Fragmente, beispielsweise an die Gräfin Egloffstein, Carl Ludwig von Knebel oder Johann Jakob und Marianne von Willemer, die neben „Dichtung und Wahrheit“ stehen. Man meint, im Zeitraffer bekannte und beliebte Stellen der Weltliteratur neu assoziativ verknüpft zu erleben.
Als rührend liebevoller mütterlich-großmütterlicher Monolog lesen sich die Briefe von Catharina Elisabeth Goethe an ihren Sohn Johann Wolfgang und an Frau von Göchhausen. Man spürt förmlich die Vereinsamung der alten Dame in Frankfurt, weitab von der Familie in Weimar. Mathias Mayer verzichtet darauf, den Briefen Schreiben in der Gegenrichtung – von der Ilm an den Main – gegenüberzustellen. Großmutter Goethes Sorge gilt vor allem der Frage, ob sie angemessene Geschenke gefunden hat: für Schwiegertochter und Enkel. Als ein Versuch nachgetragener Liebe lesen sich diese Briefe in die Familie, „Freulein“ von Göchhausen widmet sie immerhin sogar ein Gedicht.
Fast ein amtlich-knapper Charakter kennzeichnet den nächsten Abschnitt. Die Auszüge aus Tagebüchern an Weihnachten und getrennt davon an Silvester von 1776 bis 1831 lesen sich in ihrer jährlichen Abfolge durchaus interessant, lassen allerdings den Leser etwas hilflos zurück. Schließlich handelt es sich hier um Kürzest-Notizen zur eigenen persönlichen Erinnerung, die ohne Kommentar recht unverständlich bleiben müssen. Etwa wenn Goethe zum Jahreswechsel 1822 notiert: „Vorarbeiten. Halb elf Uhr Frau Großherzogin. Sodann Vorarbeiten zu Kunst und Altertum. Conzepte zu Briefen. Mittag zu sechsen. Nach Tische bald in’s hintere Zimmer, manches beseitigt und vorgearbeitet …“ (S. 104) Ergänzt wird dieses Zitat mit dem Quellennachweis nach der Weimarer Ausgabe: „WA III, 8, S. 278“. Anmerkungen und Erläuterungen wären hier hilfreich. Man kann sie freilich in den erwähnten Ausgaben nachlesen. Oder in dem Band von Werner Völker. Deutlich wird, und das wollte Mathias Mayer wohl auch dokumentieren, dass Goethe den Termin ganz nüchtern-sachlich als Arbeitstag mit dienstlichen und schriftstellerischen Aufgaben und Pflichten wahrnahm, ihn nicht etwa kirchlich überhöhte oder verklärte.
… ein Arbeitstag unter anderen
Ergiebiger sind da schon die Neujahrsgrüße. Mit dem bekannten Gedicht des Enkels an seine „Hochgeehrtesten und Hertzlichgeliebten Gros Eltern“ (S. 113) beginnen sie. Im Lauf seines langen Lebens überwindet Goethe seine kindliche Begeisterung, gewinnt Distanz gegenüber Pathos und Kirche. Lyrische Texte und jeweils stark gekürzte Briefauszüge Goethes – an Charlotte von Stein, Großherzog Carl August und Großherzogin Luise, Marianne von Willemer und Schiller, ein Schreiben von Schillers Witwe über Goethes Gesundheitszustand an Cotta, an Amalie von Levetzow, Friedrich von Müller oder Carl Friedrich Zelter und andere – sowie ein Auszug aus „Dichtung und Wahrheit“ runden das Bild ab.
Weihnachten, resümiert Mathias Mayer in seinem Nachwort, sei für Goethe „in erster Linie die schlichte Menschlichkeit, weniger ein religiöses oder gar frommes Ereignis, das gefeiert wird.“ (S. 156) Eher distanziert beschreibt Goethe – quasi in der Rolle eines Theaterkritikers – die Feier 1786 in St. Peter in Rom: „Es ist ein einziges Schauspiel in seiner Art, prächtig und würdig genug, ich bin aber im protestantischen Diogenismus so alt geworden, daß mir diese Herrlichkeit mehr nimmt als gibt.“ (S. 23) Und er vergleicht in der „Italienischen Reise“ die Aufführung im Vatikan mit der „Messe nach griechischem Ritus“, die er am „drei Königs-Feste“ erlebte: „Die Zeremonien scheinen mir stattlicher, strenger, nachdenklicher und doch populärer als die lateinischen.“ (S. 23) Diese neuerliche Sammlung gibt einen bunten Eindruck von Goethes Vorstellungen und Praxis, Weihnachten zu feiern: für Christiane und August als traditionelles Fest mit Präsenten am Tannenbaum, für den Hausherrn: ein Arbeitstag unter anderen.
Weihnachten mit Goethe.
Herausgegeben von Mathias Mayer.
Insel Taschenbuch Nr. 4738, Insel Verlag Berlin 2019
160 S.
ISBN: 978-3-458-36438-2
Preis: 10,00 €
Werner Völker
Weihnachten bei Goethe
Insel-Bücherei Nr. 1456, Insel Verlag Berlin 2018
116 Seiten
ISBN: 978-3-458-19456-9
Preis: 14,00 €
Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 5/2020.