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Goethe-Jahrbuch 2020
Zu den Neuerscheinungen, die wir unseren Lesern besonders empfehlen möchten, gehört natürlich auch wieder das Jahrbuch. Hier sind zwei erste Leseeindrücke:
Leseeindrücke zum Beitrag von Paula Wojcik: Goethe in Polen. Zur Migration seiner Figuren ins östliche Nachbarland
Paula Wojcik legt mit ihrem Beitrag zum Thema „Goethe in Polen“ einen Fokus auf die Migration von Goethes Figuren ins Nachbarland. Die Argumente der Autorin erscheinen mir sehr systematisch, einleuchtend und gelungen – auch für Leser, die keine Vorkenntnisse über die polnische Literatur besitzen. Sehr überzeugend hat Paula Wojcik drei Charaktere aus unterschiedlichen Werkbereichen („Reineke Fuchs“, „Faust“ und „Wilhelm Meister“) ausgewählt und kann mit Blick auf unterschiedliche „Rezeptionsfacetten“ den Nachweis führen, dass Goethes Figuren auf zwei Wegen in Polen rezipiert worden sind, nämlich durch Folklorisierung und Universalisierung. Ein Unterschied zwischen Folklorisierung und Universalisierung liegt dabei im Verhältnis zwischen der Fremdheit von Goethes Figuren und den Kulturtraditionen im Zielland. Erstere sorgt dafür, dass Goethes Figuren mit der Volkskultur des Ziellandes verschmelzen können, um ihre kulturelle Fremdheit aufzuheben. Letztere löst nicht nur Goethes Figuren heraus, sondern extrahiert auch den auf diese Figuren bezogenen Plot als „ein Ideenuniversum“ aus dem originalen Gesamtkontext und hebt diesen auf ein passendes und verallgemeinerndes Niveau, um die Fremdheit dabei gleichzeitig aufzuheben. Damit werden Goethes Figuren nicht mit den Volkskulturen assimiliert, sondern eher integriert. Die beiden Rezeptionsweisen können während der Übertragung von Goethes Figuren sowohl separat als auch gemeinsam vonstattengehen. Als Chinesin sind mir diese beiden Arten der Akkulturation nicht fremd, wenn ich sie mit Goethes Rezeption in China vergleiche. Beispielsweise bei der Aufführung von Goethes „Faust“ in Peking Ende Mai 1994 wurde die Rolle des Mephisto von der berühmten Schauspielerin Naiming Lou (娄乃鸣) gespielt und damit wandelt sich die mysteriöse und komplizierte Beziehung zwischen Mephisto und Faust in eine des gegenseitigen Yin-Yang, wie sie in der Traditionskultur Chinas ausgeprägt ist, sodass das chinesische Publikum sie besser und einfacher nachvollziehen und empfinden konnte.1 In dem Roman „Mittelnacht“ (子夜) des chinesischen Schriftstellers Mao Dun (茅盾) hat der frühere Geliebte der Protagonistin ihr Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ und eine trockene weiße Rose geschickt, bevor er an die Front gehen musste. Die Erwähnung des „Werther“ hat es Mao Dun ermöglicht, die verschlungene Liebesbeziehung zwischen der Protagonistin, ihrem früheren Geliebten und ihrem Ehemann prägnanter zu beschreiben und gleichzeitig durch die Übertragung von Werthers melancholischer Liebe der Romanhandlung einen universelleren Aspekt zu verleihen.2 Paula Wojciks Beitrag hat mich sehr ermutigt, die von ihr aufgezeigten Wege der Rezeption auf die Geschichte der Goethe-Rezeption in China anzuwenden. Ich bewundere einerseits die Mannigfaltigkeit der Migration von Goethes Figuren in unterschiedliche kulturelle Kontexte, wenngleich die Übersetzungen nicht immer zufriedenstellend sind, die Sprachen mit dem Deutschen nicht immer kompatibel verbunden werden können und die historisch und realistisch geweckten Erwartungen, wie sie bei unterschiedlichen Nationalitäten und unterschiedlichen Epochen vorliegen, auch unterschiedlich ausfallen. Gleichzeitig tritt bei Wojcik deutlich hervor, dass die Goethe-Rezeption ein andauerndes Forschungsthema ist und dass Goethe nach wie vor weltweit großes Ansehen genießt. Seine Rezeption verändert sich immer dann, wenn die Ideologie/Vorstellungswelt einer realen Gesellschaft sich verändert. Sowohl Folklorisierung als auch Universalisierung sind verschiedene Wege kultureller Migration, dadurch können Goethes Figuren besser in die Volkskulturen und in den Zeitgeist der Zielländer integriert werden, außerdem spiegelt sich in diesen Prozessen die Pluralität von Gesellschaften wider. (Tingting Wu)
1 Yang Wuneng, Mo Guanghua: Goethe und China (歌德和中国), Bo Han (Hg.), Volksverlag Sichuan (四川人民出版 社), Chengdu, 2017, S. 253f.
2 Ebenda, S. 235–242
Einige erste Leseeindrücke
ute Jahrbücher zeichnen sich durch Verlässlichkeit und Vielfalt aus, offenbaren ein breites Spektrum an Einblicken und Anregungen. Ganz im Geist Goethes ist die international tätige Weimarer Muttergesellschaft global aufgestellt, man erkennt es einmal mehr in der aktuellen Ausgabe: Band 137 von 2020.
Zunächst zu den Rezensionen, die Veröffentlichungen aus Italien, Frankreich, Brasilien oder den verblüffenden Titel „Wie Goethe Japaner wurde“ (S. 301–302) und „Vergleichende Weltliteraturen“ (S.237–238) berücksichtigen. Als hilfreicher Service dürfte diese Rubrik viele Leser finden, nicht nur an Universitäten. Dort ist auch die „junge Goetheforschung“ aktiv; für einen ersten Höhepunkt sorgen ihre Vorträge zu Beginn jeder Hauptversammlung, interessante Aufsätze aus diesem Kreis bilden wieder den Auftakt des Bandes (S. 19–90).
Impulse weltweiter Diskurse zu Goethe geben auch die „Abhandlungen“ (S. 91–168) zu erkennen. Und zwar gleich doppelt. So untersucht Paula Wojcik „Goethe in Polen. Zur Migration seiner Figuren ins östliche Nachbarland“ (S. 137–148) und kommt zu dem Schluss, „dass Goethes Figuren sich in Polen gut integriert haben“ (S. 148). Das geschehe – und das ist, denke ich, ein in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannter Aspekt – abseits der Übersetzungen unterschiedlich. „Im Vorgang der Folklorisierung werden sie mit der kulturellen Tradition assimiliert. Das gilt für Reinicke Fuchs und für eine Variante des polnischen Faust“ (S. 148). Daneben gebe es aber auch den „unassimilierten Faust“, dessen kulturelle Herkunft nicht unkenntlich gemacht werde. „Seine und Wilhelm Meisters Fremdheit“ lieferten den „Mehrwert, durch die Begegnung mit dem Fremden, das eigene Selbst besser zu verstehen“ (S. 148).
Und Jürgen Trabant dokumentiert anhand einer in enger Zusammenarbeit von Goethe und Wilhelm von Humboldt entstandenen „Sprachkarte“, die bereits 1812 in französischer Übersetzung veröffentlicht wurde und deren Text erstmals (!) hier im Jahrbuch nachzulesen ist (S. 155–167), dass Goethe und seine Leistungen offenbar außerhalb des deutschen Sprachraums mitunter stärker wahrgenommen wurden als in der eigenen Heimat: „Wilhelm von Humboldts ‚Anleitung zu Entwerfung einer allgemeinen Sprachkarte von 1812“ (S.149–154).
Dass sogar die Goethephilologie auswärts reger handelte und dem „Propheten“ eher als im „eigenen Land“ gerecht zu werden bemüht war, wird in Frieder von Ammons Beitrag „George Henry Lewes‘ ‚The Life and Works of Goethe‘“ deutlich – in der Rubrik „Goethe-Bücher der Vergangenheit, neu gelesen“ (S. 182–193). Von Lewes stamme „die erste vollständige, vollgültige Goethe-Biographie“ (S. 181), sie erschien in englischer Sprache bereits 1855. Eine deutsche Übertragung kam 1857 auf den Markt, außerdem Übersetzungen „unter anderem ins Französische, Italienische, Polnische und Russische (S. 181–182). Damit habe Lewes für das internationale Goethe-Bild „bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein eine zentrale Rolle gespielt“ (S. 182). Lewes hatte vor Ort recherchiert, gegenüber der Eckermann-Buchhandlung erinnert eine Tafel bis heute daran. Offenbar schreckte diese Arbeit deutsche Germanisten auf: „Da kam über den Kanal her die Kunde, ein Engländer rüste sich, uns den Ruhm des Erstlingsversuches zu entreißen“, klagte Heinrich Viehoff fast ein wenig beleidigt (S. 185). Besonders spannend macht diese „erneute Lektüre“, dass von Ammon auch Lewes‘ literarische Fähigkeiten würdigt sowie das gesamte kulturelle Umfeld bis hin zu den Auswirkungen auf die Literatur wie auf den Roman „Middlemarch“ von George Eliot (so lautete das Pseudonym von Lewes‘ Partnerin Mary Ann Evans). Lewes sei „ein ausgezeichneter Goethe-Übersetzer“ (S. 190) und „der Riese, auf dessen Schultern die späteren Goethe-Biographen (und eben nicht nur diese) stehen“ lautet der Befund (S. 191).
Auch eher für derbere Töne wie „Erst kommt das Fressen …“ bekannte literarische Genies lasen ihren Weimarer Dichterfürsten sehr genau und produktiv – das zeigt Jochen Golz unter der behutsam-defensiv formulierten Überschrift „Brecht und Goethe – eine Spurensuche“ (S. 114–136). Mit seiner detaillierten Analyse dezenter, aber offensichtlicher Bezüge – unter anderem in lyrischen Feinheiten – verbindet er eine Anregung: „Zwar ist mittlerweile in der Forschung an die Stelle des Klischees vom Klassik-Zerstörer Brecht die Auffassung vom Poeta doctus getreten, doch weiß man immer noch zu wenig von dem Fundament, das Brechts literarischer Bildung zugrunde liegt“ (S. 115). Freilich war diese anerkennende und kreative Würdigung der Tradition nicht ganz bruchlos zu haben: „Zugespitzt ließe sich sagen, dass hier – und später auch – der gebildete Künstler und der rebellische Ideologe Brecht mitunter in Konflikt gerieten“ (S. 121). Den modernen Klassiker und seinen Weimarer Vorgänger verbinde, dass beide unter den „Mühen der Ebenen“ litten und beide „große Skepsis und leise Hoffnung“ (S. 136) empfunden haben dürften, angesichts der Entwicklungen in ihren deutschen Teil-Staaten. Die Aufsätze dieses Jahrbuchs verbindet, dass ihre Lektüre nicht nur Lust zu erregen vermag, erneut zu den Weimarer Dichtungen nicht nur Goethes zu greifen, sondern die angedachten Perspektiven weiter zu verfolgen, die sich lesend hier eröffnen. Überzeugt von der Lektüre des Bandes 137 freut man sich bereits auf den folgenden. (Andreas Rumler)
Frieder von Ammon, Jochen Golz, Stefan Matuschek und Edith Zehm (Hrsg.)
Goethe-Jahrbuch 2020, Band 137
Wallstein Verlag, Göttigen, 357 S., 12 Abb., geb.
ISBN: 978-3-8353-5053-3
Preis: 29,95 €
Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 3/2021.